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Höhere Löhne

Barbara Gysi, Nationalrätin und SP-Vizepräsidentin

Frau Gysi, was hat der Feminismus in der Schweiz bis jetzt erreicht? – Was noch nicht?  

Barbara Gysi: Frauen sind insgesamt sichtbarer geworden. Gewalt gegen Frauen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Lohndiskriminierung etc. sind thematisiert. Viele Massnahmen wurden erarbeitet und haben zu Verbesserungen für Frauen geführt. Und doch stossen Frauen immer wieder an und werden diskriminiert, ist Sexismus schleichend im Alltag präsent. 

Frauen verdienen immer noch viel weniger, Frauenberufe sind massiv unterbezahlt und die Arbeitsbedingungen in Frauenberufen meist nicht über Gesamtarbeitsverträge geschützt. Vereinbarkeit von Beruf und Familie führt für Frauen zu massiven Belastungen und oft auch zu Benachteiligung beim beruflichen Fortkommen. Weibliche Führungskompetenzen werden in Frage gestellt, wir werden häufiger in Diskussionen unterbrochen, kommen weniger in den Medien vor. 

Können Männer etwas zum Feminismus beitragen?

Auf jeden Fall und sie müssen auch. Männer können dazu beitragen, die Rollenbilder zu durchbrechen und auch für sich Vereinbarkeit von Beruf und Familie einzufordern. Sie können gemeinsam mit uns für bessere Frauenlöhne und gegen Gewalt einstehen. 

Nach wie vor arbeiten viele Frauen ehrenamtlich und stehen nach einer Scheidung oder im Alter mittellos da, wie könnte das geändert werden?

Die Care-Arbeit muss unbedingt aufgewertet werden und besser abgegolten werden. Betreuungsarbeit muss in der AHV noch besser (zu einem höheren Ansatz) und endlich auch in der Pensionskasse solidarisch abgegolten werden. Mehr Care-Arbeit muss bezahlt werden. Die Care-Berufe müssen zwingend höhere Löhne bekommen und die Arbeitsbedingungen mit Gesamtarbeitsverträgen verbessert und abgesichert werden.

Welche Feminismus-hemmende Faktoren gibt es? 

Stereotype Bilder, wie Frau* zu sein hat.

Wie wäre Ihr Leben verlaufen, wenn Sie ein Mann wären? Wie wäre Ihr heutiger Alltag?    

Eine schwierige Frage. Ich hätte auf jeden Fall nie tauschen wollen. Auch wenn ich immer angestossen bin, konnte ich doch viele meiner Träume realisieren. 

Ist 2019 das Jahr der Frauen?

Dieses Jahr ist ein wichtiges Jahr für uns Frauen. Nach der Minireform zur Lohngleichheit muss es jetzt endlich vorwärts gehen und Frauen müssen höhere Löhne bekommen. Den Schwung wollen wir nutzen, um griffige Massnahmen gegen die Gewalt an Frauen zu erreichen und in den Wahlen so viele Frauen wie noch nie ins Parlament zu bringen. Die Frauen aller Generationen und politischer Haltung sollen gemeinsam kämpfen, um am 14. Juni einen Frauenstreik mit Auswirkungen zu feiern.  

Welche Feminist_innen sollten unsere Leser_innen kennen?

Schon als junge Frau war ich beeindruckt von Simone de Beauvoir und ihren Texten. 

Als linke Frau natürlich Rosa Luxemburg.

Die Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch hat mein Sprachbewusstsein geschärft.

Aber auch Annemarie Schwarzenbach, die Weltenbummlerin und Abenteuerin beeindruckt mich. 

Florence Nightingale, die Begründerin der modernen Krankenpflege.

Feministinnen mit Migrationshintergrund wie Audre Lorde und der jüngeren Generation wie Laurie Penny. 

Webseite von Barbara Gysi: www.barbara-gysi.ch

Wirtschaft ist Care

Caroline Krüger, Dr. phil., Erwerbsarbeit an der Medizinischen Fakultät der UZH, alleinerziehende Mutter eines Sohnes, engagiert für den Verein und vor allem den Denkansatz Wirtschaft ist Care.

Frau Krüger, was hat der Feminismus in der Schweiz bis jetzt erreicht? – Was noch nicht? Können Männer etwas zum Feminismus beitragen?

Caroline Krüger: Ich bin 1971 geboren – in dem Jahr, in dem das Stimmrecht für Frauen eingeführt wurde. Daran zu denken, dass dieses Recht in der Schweiz nicht älter ist, als ich selbst, finde ich eindrücklich. Ich bin den Frauen, die dies erkämpft haben, dankbar. Gleichstellung ist für mich nicht das Ziel, sondern ein Ausgangspunkt für weiteres Denken.
Die zweite Frage, ob Männer etwas beitragen können, möchte ich deshalb gleich mit in die Antwort nehmen. Ja, das können sie – ich denke, es geht jetzt darum zu überlegen, wie ein gutes Leben für alle aussehen kann und dafür braucht es alle Geschlechter.

Wenn wir uns vom Denken, dass alles traditionell männlich Konnotierte per se gut und erstrebenswert ist, lösen, können wir in den Blick nehmen, was uns gemeinsam wichtig ist.
Für mich ist hier der Begriff Care zentral – er hat eine doppelte Bedeutung. Einerseits bezeichnen wir damit die klassischen Pflege- und Sorgetätigkeiten, die oft Frauen* zugeordnet werden, schlecht oder gar nicht bezahlt und eher als weniger bedeutsam angesehen werden. Diese Wertung hängt damit zusammen, dass die Erwerbsarbeit als wichtigstes Element des Lebens angesehen wird. Wir sind allerdings alle nicht als selbstständige Erwachsene zur Welt gekommen; jemand – oft eine Frau – hat sich um uns gekümmert, sich gesorgt, für uns gesorgt. Und auch am Ende jeden Lebens braucht es wieder mehr Care, mehr Sorge, mehr Pflege. Diese Tätigkeiten sind notwendig und unverzichtbar und sollten daher nicht als Kostenfaktor, sondern als Zentrum der Wirtschaft und des Wirtschaftens angesehen werden.

Hier setzt «Wirtschaft ist Care» an – denn Care kann auch noch etwas anders gesehen werden: als ein Kriterium für die Tätigkeiten, die wir ausüben. Tätigkeiten, die Bedürfnisse befriedigen – was eigentlich die Aufgabe der Wirtschaft ist – gehören ins Zentrum, während andere Tätigkeiten weniger wichtig sind. Vielen Tätigkeiten liegen Bedürfnisse zugrunde, auch solchen, denen wir es nicht auf den ersten Blick ansehen – wir bauen eine Brücke, weil Menschen das Bedürfnis haben, den Fluss zu überqueren beispielsweise.
Tätigkeiten, die kein Bedürfnis befriedigen, sollten wir hinterfragen – wofür braucht es die Produktion von Waffen?

Nach wie vor arbeiten viele Frauen ehrenamtlich und stehen nach einer Scheidung oder im Alter mittellos da, wie könnte das geändert werden?

Wenn wir davon ausgehen, dass Wirtschaft Care ist, müssen die Konzepte von «Ehrenamt», «Freiwilligenarbeit», «unbezahlter Arbeit» und Erwerbsarbeit überdacht und neu bewertet werden. 
Das Recht auf Arbeit sollte in zwei Rechte geteilt werden: das Recht auf Sicherung des Lebensunterhalts und das Recht auf sinnvolle Tätigkeit.
Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens finde ich interessant, jedoch muss die Care-Perspektive in ein Konzept des BGE miteinfliessen. Das Grundeinkommen sollte nicht als Finanzierung der bisher unbezahlten (Care)Arbeit angesehen werden, da dies die traditionellen Geschlechterrollen zementieren würde. Vielmehr sollte ein wirklich bedingungsloses Grundeinkommen dazu beitragen, dass ein würdiges Leben möglich ist – für alle, weil sie es brauchen und bevor sie etwas leisten müssen. (Bevor Sie jetzt beim Lesen innerlich sagen «das können wir nicht bezahlen», überlegen Sie kurz, ob Sie überlebt hätten, wenn Ihre Mutter* nur für finanzielle Anreize gearbeitet hätte.)

Da wir – leider – nicht ab sofort einfach alles anders machen können, ist es auch wichtig, andere Möglichkeiten zu prüfen, wie zum Beispiel die Anrechnung unbezahlter Tätigkeiten für die Altersvorsorge. Das BfS erhebt seit über 20 Jahren die Zahlen zur unbezahlten Arbeit und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Sichtbarmachung des (enormen) Volumens und der Bedeutung.

Welche Feminist_innen sollten unsere Leser_innen kennen?

Gern möchte ich statt einzelner Personen eine Praxis und einige Plattformen empfehlen.

Die Praxis: Beziehen Sie sich auf andere Frauen, zitieren Sie diese, anerkennen Sie öffentlich, wenn Sie von anderen Frauen etwas gelernt haben, wenn Sie einverstanden sind oder sich geärgert haben. Das klingt banal, jedoch hat es eine Wirkung, es hilft beim Sichtbarmachen und zeigt, wie Gedanken sich entwickeln – oft im Gespräch, in Beziehung zu anderen.

Und dann:

www.bzw-weiterdenken.de ist ein Internetforum, das, von Beziehungen unter Frauen ausgehend – daher der Titel – , ein philosophisches und politisches Gespräch ermöglicht.

www.care-revolution.org/netzwerk ist ein Zusammenschluss von über 80 Gruppen und Personen, die in verschiedenen Feldern sozialer Reproduktion – Hausarbeit, Gesundheit, Pflege, Assistenz, Erziehung, Bildung, Wohnen und Sexarbeit – aktiv sind.

www.maenner.ch zeigt, wie Männer den Prozess der Emanzipation mitgestalten wollen und können.

www.abcdesgutenlebens.wordpress.com ist die Online-Version eines «ABC des guten Lebens», in dem wir 9 Autorinnen uns mit Begriffen wie Care, Tätigsein, Wirtinschaft auseinandergesetzt haben.

Und zuletzt:

www.denkumenta. … ist die Ausschreibung einer Konferenz zum Thema Über_setzen, die im August stattfindet – eine Gelegenheit zur Diskussion, Beiträge willkommen!

Foto: Ute Knüfer

Eine feministische Fakultät

Erika Bachfrau ist Mitgründerin und Vorstandsfrau der feministischen fakultät fem!

Frau Bachfrau, wie entstand die feministische fakultät?

Erika Bachfrau: Die Idee dazu entwickelte sich an einem Nachmittag bei Kaffee, Kuchen und Sahne an einem Treffen ehemaliger Studentinnen des European Women’s College Zürich. Auch 20 Jahre nach dem Studiengang, den wir von 1995 bis 1997 absolviert hatten, loderte bei uns die Neugier und Lust an feministischen Themen. Elisa Gämlich Schmuki und ich nahmen den Faden auf und spannen ihn weiter. Dann hielten wir Ausschau nach geeigneten Frauen, die uns dabei unterstützen konnten, unsere Vision auf dem Boden der Realität zu verankern und wurden fündig. Zusammen mit Zita Küng, Laura Lots und Léa Burger gründeten wir im Dezember 2017 den Verein feministische fakultät fem! mit Sitz in Winterthur. 

Was wird in der feministischen fakultät gelehrt?

Unsere Kultur weisst sehr viele Aspekte auf, die mit einem feministischen Blick hinterfragt werden können. Die feministische fakultät will den Teilnehmerinnen Denk-Räume öffnen, die sich mit ihren eigenen Leben verknüpfen lassen und zu grösserer Selbstbestimmung und mehr Entscheidungsmacht führen.  Auswahl für den Lehrgang 2018/19:

  • Feministische Kritik der politischen Ökonomie (mit Mascha Madörin)
  • FrauenWissenKörper – sinnlich sinnvoll selbstbestimmt (mit LuciAnna Braendle)
  • Frauen in Georgien – aktuelle Fragen (mit Giuli Shabashvili und N.N. aus Tiflis)  
  • Weiberpotenzial und Frauenpotenz (mit Gudrun Schnekenburger und Carola Berszin) 
  • Gender in Sprache, Gespräch und Humor (mit Helga Kotthoff)
  • Gesellschaftliche Strukturen und Recht (mit Zita Küng)

Was denken Sie, wird unsere Gesellschaft immer feministischer? 

Die Zeit war unserem Vorhaben gewogen. Das Interesse am Feminismus wächst. So nahmen an unserem ersten Lehrgang 26 und am zweiten 24 Frauen teil. Frauen unterschiedlichsten Alters und Lebensentwürfen. Für eine Weiterbildung, die das immer noch umstrittene Wort feministisch verwendet ist das ein Erfolg. Insofern sage ich: Ja, unsere Gesellschaft wird feministischer. Bei der Definition des Begriffs Feminismus orientiere ich mich an der Aussage von Franziska Strub, wissenschaftliche Mitarbeiterin der PHZH:

»Feminismus ist eine gesellschaftspolitische Bewegung, welche die Diskriminierung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts überwinden will.«

Wie wäre Ihr Leben verlaufen, wenn Sie ein Mann wären?

Eine schwierige Frage. Wenn ich meine Herkunft betrachte, hätte ich – wie für meinen Bruder vorgesehen – einen Beruf gelernt, Geld verdient, geheiratet, Kinder gezeugt und meine Familie ernährt – wenngleich diese Zuschreibung (wer ernährt eigentlich wen?), auch hinterfragt werden kann. Hätte ich etwas vermisst? Hätte ich einen Grund gehabt, nach einem anderen Lebensverlauf Ausschau zu halten? Ich weiss es nicht.

>  feministische fakultät fem!

Aus der Geschichte getilgt

Anita Fetz (*1957), Historikerin und selbstständige Unternehmensberaterin ist Ständerätin des Kantons Basel-Stadt. Sie engagiert sich seit Jahrzehnten für die Gleichstellung der Geschlechter. Mit ihrer Firma femmedia ChangeAssist berät sie seit über 30 Jahren Firmen im Bereich Gleichberechtigung und sie hat viele Nachwuchsförderprogramme für Frauen entwickelt.

Frau Fetz, in Ihrem Buch my baasel – Neun Streifzüge durch Basel für Frauen zeigen Sie, was Frauen in Basel alles hervorgebracht haben. Was hat Sie zu diesem Buch inspiriert?

Anita Fetz: Ich finde es wichtig auf lockere Art aufzuzeigen, wie Frauen durch alle Jahrhunderte und in allen gesellschaftlichen Bereichen die Stadt am Rheinknie entscheidend mitgeprägt haben. Leider sind sie oft einfach aus der Geschichte getilgt und vergessen worden. Mit meinem Buch sind sie wieder da und sollen Frauen zeigen, dass sie nicht nur eine Diskriminierungsgeschichte, sondern auch eine Gestaltungsgeschichte haben.

Feminismus war für Sie ein Thema, als in der Öffentlichkeit noch fast niemand darüber sprach. Was war Ihre Motivation?

Ich war Aktivistin der sogenannten Neuen Frauenbewegung der 70er-90er Jahre und habe mir damals geschworen mitzuhelfen, dass die Gleichberechtigung in der Schweiz durchgesetzt ist. Ich hätte damals nicht gedacht, dass das so lange geht. Um etwas zu verändern braucht frau Marathonfähigkeiten.

Nach wie vor arbeiten viele Frauen ehrenamtlich und stehen nach einer Scheidung oder im Alter mittellos da, wie könnte das geändert werden?

Frauen sollten auf keinen Fall aufhören erwerbstätig zu sein – auch mit Kindern. Mindestens in den Städten gibt es heute gute Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Falls sie trotzdem eine Weile aussetzen wegen der Kinder, dann wäre es wichtig, auf jeden Fall das gemeinsame Einkommen auf zwei Konten zu überweisen (oder wollen sie bei ihren Mann um Geld betteln müssen, falls es mal Konflikte gibt?). Beim Geld geht es nicht um Romantik, sondern nur pragmatisch-praktische Lösungen. Bei einer Scheidung ist eine gute Anwältin entscheidend, die dafür sorgt, dass das gemeinsame Geld inklusive Rente korrekt geteilt wird. Ich staune immer wieder, wie naiv Frauen mit ihrer finanziellen Absicherung umgehen, obwohl fast jede zweite Ehe geschieden wird.

Wie wäre Ihr Leben verlaufen, wenn Sie ein Mann wären? Wie wäre Ihr heutiger Alltag?

Das weiss ich nicht. Ich hatte das Glück als Mädchen in eine Zeit des Aufbruchs hineingeboren zu werden, in der frau viel erreichen konnte, je nach Ausbildung und Biss.

Ist 2019 das Jahr der Frauen?

Das hoff ich doch!

Welche feministische Autor_innen sollten unsere Leser_innen kennen? 

  • Olympe de Gouches, Verfasserin der Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin (1791)
  • Iris von Roten: Frauen im Laufgitter (1958)
  • Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht (1949)
  • Betty Friedan: Der Weiblichkeitswahn (1963)
  • Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter (1990)
  • Laurie Penny: Fleischmarkt. Weibliche Körper im Kapitalismus (2011)
  • und weitere mehr

> Webseite von Anita Fetz

Gestaltung von Macht

Dr. phil. / Dipl. Coach Regula Stämpfli (50), Politik-Dozentin mit Schwerpunkt Hannah Arendt, political Design and Digital Transformation, Bestseller-Autorin und unabhängige wissenschaftliche Beraterin für die Europäische Union, ist eine der anerkanntesten Experten für Demokratie, Medien und Digitalisierung.

Sie ist in Brüssel, Zürich und Paris tätig, wohnt in München und ist Mitglied in zahlreichen internationalen Forschungsinstitutionen und Stiftungen.

@laStaempfli – so ihr Zwitschername – fungiert immer wieder im Who is Who der Schweiz und wurde 2016 unter den 100 einflussreichsten Businessfrauen der Schweiz angeführt.

Frau Stämpfli, was hat der Feminismus in der Schweiz bis jetzt erreicht?

Regula Stämpfli: Dass man darüber redet, ist schon mal was!

Was noch nicht?  

Dass dies auch gesellschaftliche, politische und ökonomische Konsequenzen hat. 

Echt jetzt, so wenig?

Naja. Seien wir gnädig: Die Einführung des Frauenstimm- und wahlrechtes, die Rechtsgleichheit und die Tatsache, dass Tausende von Frauen nicht mehr bei Abtreibungen oder Geburten sterben, dass sie nicht wie in unzähligen Gegenden aufgrund ihres weiblichen Körpers beschnitten, verhüllt oder sonstwie regelrecht zurechtgeschneidert werden, ist in den westlichen Demokratien mal schon ganz weit vorne. Doch grundsätzlich wird grad in den letzten Jahren die Streuwaffe Sexismus so eingesetzt, dass sogar der Frauenhass markttauglich gemacht wird. 

Das müssen Sie nun aber erklären: Wie wird der Frauenhass markttauglich gemacht? 

Frauen sind seit Jahrhunderten das beherrschte Geschlecht, was in vielen Gesellschaften zu unmenschlich grosser und brutal weiblicher Anpassung geführt hat und führt. Schauen Sie in die Geschichte und Sie entdecken weibliche Mittäterschaft bis zum Abwinken. Bis ins 20. Jahrhundert brachen in China ältere Frauen den kleinen Mädchen »aus guten Familien« die Fussknochen, banden anschliessend die Füsschen gewaltsam ab und nannten diese Tortur euphemistisch »Lotos-« oder »Lilienfuss.« In mehr als zwei Dutzend Ländern schneiden Matronen kleinen Mädchen – ohne Betäubung – mit Flaschenscherben, Rasierklingen oder Messern weitflächig den Genitalbereich ab, die Wunde wird mit Pferdehaar und Akaziendornen vernäht. Weibliche Föten werden hunderttausendfach abgetrieben. Im westlichen Europa wurden Frauen zuerst verbrannt, dann in unglaubliche Moden gesteckt: Stocksteife Mieder pressen die Brüste flach, die Taille wurde mit zwei Stahlfedern an der Seite auf wenige Zentimeter zugeschnürt. Die Zurichtung des weiblichen Körpers hat sich in den westlichen Demokratien im Laufe der Zeit unter die Schädeldecke verlagert: Jede Marter-, Unterdrückungs- und Disziplinierungspraxis im und am weiblichen Körper wird nun, nicht zuletzt Judith Butler sei Dank, als »Freiheit« gepriesen. Sogar auf den Verkauf des eigenen Körpers wird ein Hohelied gesungen und unter dem Begriff »Sexarbeit« abgrundtief bösartig verharmlost. Was ich mit all diesen Beispielen sagen will: Der Weg von Anpassung zur Unterwerfung wird von Frauen viel zu oft gegangen. Frauen entwickeln als das beherrschte Geschlecht sehr häufig eine Skrupellosigkeit, die entsetzt. Dem Willen zur Stabilität und Tradition wird die weibliche Freiheit geopfert. Dies äussert sich heutzutage in der Warenwerdung der Frau, der die Menschwerdung der Frau geopfert wird. 

Klingt sehr ernüchternd. Können die Männer in dem Fall mehr zum Feminismus beitragen? 

Selbstverständlich, wenn es darum geht, die Strukturen der Unfreiheit und der mangelnden Demokratie mit konkreten politischen Handlungen (die meist immer noch in Männerhand liegen) zu beseitigen. 1776 erkämpften die amerikanischen Verfassungsväter ihre Unabhängigkeit mit dem Schlachtruf: »Keine Steuern ohne politische Repräsentation.« Auf unsere Gegenwart übersetzt, hiesse dies bsp. »Keine Daten ohne politische Repräsentation.« Die Gültigkeit des universellen politischen Versprechens für die Freiheit des Einzelnen, die Gleichheit und Solidarität im öffentlichen Raum muss sich in konkreter Politik niederschlagen. Feministisch wäre da beispielsweise, nur Freihandelsabkommen mit Staaten zu schliessen, die gleichzeitig auch die rechtliche Ungleichstellung der Frauen beseitigen (oder beseitigt haben). Die Verwirklichung von Demokratie und Gleichstellung ist immer auch eine Zoll-, respektive Steuer- und Zinsfrage. Sie sehen: Feminismus ist für mich nur einer, wenn strukturell und machtpolitisch durchgedacht, nicht wenn er einfach als »markttauglich« in neuem Unterdrückungskostüm verkauft wird. Feminismus ist nur dann Freiheit, wenn die Mittäterschaft von Frauen und Männern zwecks Stabilisierung der Verhältnisse aufhört und durch die Beseitigung der privaten Not der Einzelnen. Demokratie bedeutet Freiheit von privaten (ökonomischen, kulturellen, religiösen, medialen) Zwang und Freiheit zur politischen Partizipation und Gestaltung von Macht. 

Nach wie vor arbeiten viele Frauen ehrenamtlich und stehen nach einer Scheidung oder im Alter mittellos da, wie könnte das geändert werden?

Indem dem »doppelten Gebrauchswert der Frau« (Beatrix Messmer) genügend Rechnung getragen wird. Die Verwirklichung der Lohngleichheit, die gerechte Verteilung von Machtpositionen und die Erleichterung der Reproduktionsarbeit (sprich Krippen und Tagesschulen) werden ja in allen Ländern, die sich anständiger Gleichheitspolitik zwischen Mann und Frau (Skandinavien, Frankreich, Belgien, die Niederlande) rühmen können, schon praktiziert. 

Welche Feminismus-hemmende Faktoren gibt es?

Männer, die an ihrer Situation nichts ändern wollen.
Frauen, die an ihrer Situation nichts ändern wollen oder können.
Kulturelle und religiöse Gründe – die auch ein Vorwand sein können.

Gewalt, die aus Gewehrläufen kommt und die Macht des gemeinsamen, demokratischen Handelns radikal zum Verstummen bringt. 

Wie wäre Ihr Leben verlaufen, wenn Sie ein Mann wären? Wie wäre Ihr heutiger Alltag?

Ich hätte mehr Geld, eine bessere Pension, einen dickeren Bauch, meine Kinder würden meinen Betrieb weiterführen und ich wäre ein Mann in den besten Jahren, sprich ein unbelehrbarer Macho wie die meisten meiner männlichen Zeitgenossen. Zudem hätte ich meine Intelligenz darauf verwendet, Macht zu erringen, statt Wirklichkeit und Wahrsprechen in Einklang zu bringen und versuchen, die Welt besser zu verstehen. 

Ist 2019 das Jahr der Frauen?

Jedes Jahr ist das Jahr der Frauen.
Frauen sind weltweit in der Mehrzahl. Diese Macht wird jedoch durch Gewalt, Kultur, Medien und weibliches Dazutun meist gebrochen.

Welche Feminist_innen sollten unsere Leser_innen kennen?

Geht es um Politik, Hannah Arendt. Geht es um Sexualität Anais Nin. Geht es um Medien und kulturelle Definitionshoheiten, Regula Stämpfli. Geht es um Geschichte, Gerda Lerner, Carola Meyer Seethaler, Mary Wollstonecraft, Simone de Beauvoir, Martha Nussbaum und Philipp Blom. Geht es um Identität, Amanda Ngozi Adichie. Geht es ums poetische Menschsein helfen Shakespeares Sonnetten. Geht es um Religion, Deborah Feldman und Kamel Dhaoud. Haben Sie Liebeskummer? Else Laske-Schüler hilft. Brauchen Sie mehr Namen von grossen Menschen und Vorbildern? Dann schauen Sie doch bei bsp. bei Lilo König oder Emrah Erken auf Facebook rein.

Titelfoto: Sascha Swiercz
Treppenfoto: Regula Stämpfli

> Webseite von Regula Stämpfli

Feministische Theologie

Silvia Strahm ist feministische Theologin und Publizistin

Frau Strahm, was hat der Feminismus in der Kirche bis jetzt erreicht? – Was noch nicht?  

Silvia Strahm: Die Kirche sind Kirchen. Und auch «meine» Kirche, die katholische, ist als weltweit existierende Institution vielfältig und bewegt sich in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten. Im europäischen Kontext hat der Feminismus ihr ein paar Nadelstiche versetzt. Nicht mehr. Theologisch hat sich durch die feministische Theologie eine neue Sicht zumindest zu Wort gemeldet und ab und zu auch Gehör gefunden – vorwiegend aber bei den Frauen selbst. Feministisch orientierte Frauenkirchen haben sich entwickelt und einige Frauen bei ihren Fragen abgeholt. Aber alles in allem lässt die Bindung an die Kirchen auch bei den Frauen nach. Feministische Theologie kompensiert diesen Verlust nicht, sondern bietet einfach eine mögliche Perspektive für all jene, die das patriarchal orientierte und organisierte Christentum nicht mehr akzeptieren.

Wie wäre Ihr Leben verlaufen, wenn Sie ein Mann wären? Wie wäre Ihr heutiger Alltag?

Die Türen wären weiter offen gewesen – alles andere lässt sich nicht beantworten. Ich wäre dann wohl einfach ein männliches Mängelwesen geworden – hätte es aber wohl nicht unter dem Vorzeichen des Mangels gesehen.

Welche Feministinnen sollten unsere Leserinnen kennen?

Von den «Klassikerinnen»: Simone de Beauvoir, Betty Friedan, dann Silvia Bovenschen, Cheryl Benard/Edith Schlaffer, Germaine Greer, Christina Thürmer-Rohr. Heute interessant sind Laurie Penny und Margarete Stokowski. 

> Webseite von Silvia Strahm

Die Klimaforscherin

Dr. Sonia I. Seneviratne (*1974), ist Professorin am Institut für Atmosphäre und Klima der ETH Zürich. Sie zählt zu den international renommiertesten Klimaforscher_innen.

Frau Seneviratne, das Wetter spielt verrückt. Sind sich Klimaforscher_innen einig, dass die Erderwärmung eine Realität ist? 

Ja, schon seit längerer Zeit. Die Theorie dazu gibt es schon seit mehr als 100 Jahren. Erste Erkenntnisse der fortschreitenden Erwärmung gab es in den 80er Jahren, zum Beispiel mit der Zeugenaussage von Jim Hansen im US-Senat im Jahre 1988 (vor 30 Jahren). Seitdem haben mehrere Berichte vom Weltklimarat – woran Tausende von WissenschaftlerInnen beteiligt waren – diese Sachlage bestätigt und präzisiert. Ich habe zum Beispiel ein Kapitel vom einem in 2012 veröffentlichten Bericht vom Weltklimarat koordiniert, der aufzeigt, dass wir eine globale Zunahme von mehreren Typen von Klimaextremen, vor allem Hitzeextremen und Starkniederschlägen, in den Beobachtungen feststellen können, und dass wir diese Zunahme der globalen Klimaerwärmung und dem globalen Ausstoss von CO2 zuschreiben können.

Was könnte – in einer idealen Welt – getan werden, um das Klima wieder zu beruhigen? Die CO2-Emissionen senken? Bäume pflanzen? 

Der neueste Bericht des Weltklimarats zur globalen Erwärmung von 1.5°C, woran ich als Hauptautorin beteiligt war, zeigt deutlich, was zu machen ist, wenn wir irreversible Schäden vermeiden wollen. Weil CO2 mehr als tausend Jahre in der Luft bleibt, führt jegliche zusätzliche Emission von CO2 dazu bei, dass die globale Erwärmung weiter zunimmt. Deshalb muss der Netto-Ausstoss von CO2 auf null gesetzt werden, wenn wir die globale Temperaturzunahme stabilisieren wollen. Dies bedeutet langfristig der Verzicht auf dem Verbrauch von fossilen Energieträgern, d.h Erdöl, Benzin, Erdgas und Kohle. Um die globale Temperaturerwärmung auf 1.5°C gegenüber der vorindustriellen Zeit zu stabilisieren, müsste eine Netto-Null-CO2-Bilanz in 2050 global erreicht werden. Dazu sollten wir bis 2030 schon mal die CO2 Emissionen gegenüber 2010 etwa halbieren. Dies ist sehr anspruchsvoll und ambitioniert, aber nicht unmöglich. Die bisherige CO2 Emissionen zwingen uns nicht auf eine Welt mit mehr als 1.5°C Klimaerwärmung, wenn wir sofort und drastisch agieren.
Bäume zu pflanzen kann auch helfen, um das CO2 aus der Luft aufzunehmen und temporär zu speichern. Vor allem ist wichtig, zusätzliche Abholzung zu vermeiden, weil Abholzung die CO2-Emissionen erhöhen würde. Zwingend sind aber der langzeitige Verzicht auf fossile Energieträger und die Transition zum Verbrauch von erneuerbaren Energien.

> Prof. Dr. Dr. Sonia I. Seneviratne, ETH Zürich

Film ETH Zürich



Feministin werden

Anne-Sophie Keller ist Journalistin. Sie hat ein Buch über Iris von Roten geschrieben (Xanthippe-Verlag) und engagiert sich seit Jahren für die Gleichstellung von Frau und Mann.

Frau Keller, was hat der Feminismus in der Schweiz bis jetzt erreicht?

Anne-Sophie Keller: So vieles! Zum Beispiel das neue Eherecht, die Fristenregelung, der Mutterschaftsurlaub, das Frauenstimmrecht. Also allesamt wichtige Rahmenbedingungen für eine gleichberechtigte Gesellschaft. Doch es gibt noch viel zu tun. Zum Beispiel braucht es eine Frauenquote, da wahre Chancengleichheit ohne sie nicht möglich ist. Dafür funktionieren die Männernetzwerke noch zu gut. Und es braucht einen Vaterschaftsurlaub. Zudem finde ich nicht, dass die sexuelle Revolution für die Frauen schon stattgefunden hat. Weibliche Sexualität wird noch immer verurteilt, wenn sie selbstbestimmt ist. 

Können Männer etwas zum Feminismus beitragen?

Sie können, müssen und sollten. Die feministische Bewegung ist eine Verantwortung, die wir gesamtgesellschaftlich wahrnehmen müssen. Männliche Alliierte sind unglaublich wichtig, da sie oft noch entscheidende Machtpositionen innehalten. Und auch Männer profitieren von einer gleichberechtigten Gesellschaft. 

Nach wie vor arbeiten viele Frauen ehrenamtlich und stehen nach einer Scheidung oder im Alter mittellos da. Wie könnte das geändert werden?

Indem sie sich von der Vorstellung lösen, sich immer um alles und jeden kümmern zu müssen – und sich stattdessen mal um sich selbst kümmern. Zudem braucht es Rahmenbedingungen, die erfüllt werden müssen: Lohngleichheit, eine Sexismus-freie Arbeitswelt, den Vaterschaftsurlaub, etc. 

Welche Feminismus-hemmende Faktoren gibt es?

Es gibt noch immer die Haltung, dass Frauen weniger wert sind. Das hat mir der Abwertung weiblicher Arbeit zu tun und auch mit dem Bild, das Medien und die Werbebranche von Frauen präsentieren. Und natürlich spielt auch die Religion eine Rolle: Die meisten Religionen basieren unter anderem auf einer systematischen Unterdrückung der Frau – ich empfehle dazu den Schweizer Dokumentarfilm Female Pleasure

Wie wäre Ihr Leben verlaufen, wenn Sie ein Mann wären? Wie wäre Ihr heutiger Alltag?

Beruflich wäre ich wohl auch Journalist geworden. Ich hätte andere und womöglich weniger Unsicherheiten. Ich wäre noch nie auf Diät gewesen und als Schlampe bezeichnet worden. Ich wäre weniger müde, weil ich nicht immer mehr hätte leisten müssen, um gleich Ernst genommen zu werden wie meine Kollegen. Ich hätte wohl mehr Mühe damit, mit meiner emotionalen Art umzugehen. Und ich hätte einen wirklich hässlichen Namen: Wäre ich ein Junge geworden, hätten mich meine Eltern in einem Anflug geistiger Umnachtung Harald genannt.  

Welche Feminist_innen sollten unsere Leser_innen kennen?

Keine. Ausser sie brauchen Inspiration. Sie sollen selbst Feminist_innen werden.

> Webseite von Anne-Sophie Keller
> Xanthippe-Verlag: Biografie von Iris von Roten

*

Gute Migration

Als Jehan Mukawel (26) mit ihrer Familie aus Kurdistan floh, war sie keine 6 Jahre alt. Die Digitalisierungsexpertin und Nationalratskandidatin (2019) arbeitet im Bereich Entwicklungs- und Migrationspolitik. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für diverse politische Organisationen und setzt sich für Kinder mit seltenen Krankheiten ein.

Frau Mukawel, in der Presse wird Migration oft als problematisch dargestellt. Vor allem, wenn es um Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten geht. Wie ist das für Sie?

Jehan Mukawel: Vielen Leuten kommen bei diesem Thema Hunderte von negativen Schlagzeilen und Pressemitteilungen in den Sinn. Den meisten ist leider nicht bewusst, dass Menschen, die aus ihrem Land fliehen, die Flucht als allerletzte Option wählen mussten. Es ist ein schmerzvoller Schritt, Familie, Freundeskreis, Umgebung, alles, was man kennt, auf einmal verlassen zu müssen. Auch für mich und meine Familie war das so. Wie viele andere mussten wir vor rund 20 Jahren aus politischen Gründen aus unserem Land fliehen.
Trotzdem stellt sich die Frage, wie weit Assimilation gehen soll. Für mich ist es klar, dass Flüchtlinge die Grundregeln ihres neuen Aufenthaltsortes beachten müssen. Auch, dass sie die Sprache des betreffenden Landes lernen sollten. Doch es braucht keine totale Assimilation. Es ist durchaus möglich, sich in eine Gesellschaft zu integrieren, ohne die eigene Identität aufzugeben.
Die Schweiz ist mein Zuhause. Ich bin hier aufgewachsen und spreche, wie alle anderen auch, perfekt Schweizerdeutsch. Doch wegen meines Aussehens oder meines Namens werde ich oft automatisch auf Hochdeutsch angesprochen. Das lässt mich spüren, dass es für andere nicht so klar ist, wie für mich, dass ich nun Schweizerin bin mit kurdischen Wurzeln.
Ich durfte als Kind alles tun, was Kinder aus Schweizer Familien tun. Das hat mein Leben erleichtert. Gute Integration fängt bei den Eltern an. Wenn Sie das Kind begleiten, ist das einfacher, als wenn ein Kind zwischen «zwei Welten» leben muss.
Unabhängig meines Werdeganges bin ich der Ansicht, dass es auch «gute Migration» gibt, die der Schweiz gut tut.

Erlebbare Geschichte

Die Historikerin Angela Dettling ist Geschäftsleitungs-Mitglied des Museums Aargau. Ihr Ziel ist, allen Menschen die Geschichte lebendig und erlebbar näher zu bringen.

Foto: Vor der Landvogtei auf Schloss Lenzburg, im Rosengarten von Lady Mildred Jessup Bowes Lyon. Kostüm von ca. 1860.

Frau Dettling, was gehört zu Ihren Aufgaben als Geschäftsleitungsmitglied eines Museums?

Angela Dettling: Da unser Museum ein kantonales Museum ist, muss ich zusammen mit meinen Kolleg_innen in der Geschäftsleitung die Ziele im AFP erfüllen. Das sind Besucherzahlen, Vermittlungsangebote, Publikationen und Ausstellungen. Diese Zahlen werden vom Grossrat kontrolliert.

Wir erarbeiten und überarbeiten auch immer wieder unsere Museumsstrategie sowie das Leitbild und unsere Vision. Gemeinsam setzen wir die Saisonthemen für das Museum und organisieren bereichsübergreifend Veranstaltungen und Projekte.

Mein Bereich ist die Geschichtsvermittlung. Hier arbeiten sechs fest angestellte Vermittler_innen, ungefähr 30 Besucherdienstmitarbeitende und 45 Museumsführer_innen als Freelancer.

Da das Museum Aargau an sieben von seinen neun Standorten im Aargau personelle Vermittlung macht, bin ich viel am Herumreisen, um die einzelnen Teams zu besuchen.
Wir, das heisst die sechs Vermittler_innen und ich, organisieren jährliche interne wie auch extern eingekaufte Weiterbildungen für alle. Wir erarbeiten Inhalte für neue Workshops und Führungen zum jeweiligen Saisonthema. Das kann sein: Gartengeschichte, Frauenbiografien, Heilkunde, Strafrecht durch die Zeit, Essgeschichten, etc., etc.
Wir leiten auch verschiedene kleinere Projekte wie das Archivprojekt mit Erschliessung von Quellen, Partizipationsprojekte, wo Kinder Ausstellungen wie das PLIRRK! auf Schloss Lenzburg erarbeiten, die App zur IndustriekulTOUR Aabach und das Kochbuch zusammen mit dem Freiwilligenmanagement.

Wichtig ist auch, die neuesten Impulse zur Vermittlung mitzubekommen. Meist ist da England in seiner Museumslandschaft Pulsgeber für Europa. Auch in der Zusammenarbeit mit den Fachhochschulen liegt eine Chance, die Entwicklungen in den Schulen nicht aus den Augen zu verlieren. Der Lehrplan 21 ist für uns als ausserschulischer Lernort von grösster Wichtigkeit und wird die nächsten Jahre unsere Inhalte und unsere Geschichtsvermittlung beeinflussen.

Ihr neuestes Projekt ist eine App zur Industriekultur am Aabach. Was kann man sich genau darunter vorstellen?

Der Aabach fliesst vom Hallwilersee bei Seengen bis nach Wildegg, wo er in die Aare mündet. In den letzten 200 Jahren siedelten sich viele Industrien am Bach an, zapften via Kanäle die Wasserkraft an und produzierten zum Beispiel Mehl, Karton, Zigarren, Seidenstoffe, Pistolen, Elektrizität, Teigwaren, bedruckte Kattunrollen (Baumwolle), Nägel, Gips, Kupferdraht und vieles mehr! Heute sind die meisten dieser Fabriken stillgelegt, umgenutzt oder gar dem Erdboden gleichgemacht. Zusammen mit dem Verein Industriekultur am Aabach haben wir eine App erarbeitet, welche den bestehenden Industriepfad mit augmented Reality überlagert und die alten Hallen wieder auferstehen lässt. Wir haben Interviews geführt mit ehemaligen Fabrikarbeiter_innen, haben Bild- und Schriftquellen studiert und alles zu verschiedenen thematischen Rundgängen zusammengeführt.

Die HünerwADELtour erzählt die Geschichte einer Industriellenfamilie, in der Brunnertour begegnen wir Kinder und jungen Frauen, die in den Fabriken Schwerstarbeit leisten, etc. Dank der tollen App von Locly aus Wales ist es gar möglich, dass man virtuell durch Türen in andere Zeiten tritt, sich im alten Schulzimmer aus dem 19. Jahrhundert die Wandtafelzeichungen anschauen oder durch Wände in die ansonsten unzugänglichen Turbinenhalle blicken kann.
Industriegeschichte wird leider noch immer vernachlässigt, sowohl denkmalpflegerisch, schulisch wie auch in der Vermittlung. Dies wollen wir ändern, in dem wir jeweils am Schauplatz spannende Geschichten mit wirklich coolen Gadgets erzählen!

Geplant ist auch ein Kochbuch zur mittelalterlichen Küche. Wie entstand dieses Projekt? Und was wurde damals gekocht?

Auf Schloss Lenzburg wird schon über 20 Jahre mittelalterlich gekocht. Neben Schulklassen kamen auch immer Gruppen, Vereine und Arbeitsteams, um gemeinsam Mittag-, oder Abendessen zu kochen. Heute nennt man das Teambildung! So hat sich über die Jahre ein praktisches Wissen und viel Erfahrung angesammelt. Vor 10 Jahren konnten wir das Angebot noch ausweiten: Das heute gut etablierte Freiwilligenprogramm schuf ein Kochgrüppli, welches an Sonntagen jeweils für die BesucherInnen im Schlosshof mittelalterliche Häppli zum Probieren kocht und bäckt.
Am grossen Mittelaltermarkt haben wir eine Schauküche, wo wir drei Tage hintereinander einfache bis komplizierte Rezepte nachkochen – seit diesem Jahr haben wir auch einen rekonstruierten Backofen für Pasteten und Kuchen.
An solchen Events wurden wir immer wieder nach den Rezepten gefragt, die wir dann auf losen Blättern abgegeben haben. Die Idee, daraus ein Buch zu machen, wurde irgendwann konkretisiert und diesen März ist es so weit, «von birn und mandelkern» wird im hier&jetzt Verlag, Baden, herauskommen! Im Ganzen haben wohl fast 15 Personen mitgearbeitet beim rezeptenachkochen, fotografieren, recherchieren, schreiben und bei der Redaktion aller Texte.
Unsere Rezepte sind aus unterschiedlichen Sammlungen aus Frankreich, Italien, Deutschland, England und der Schweiz aus dem 14. und vor allem 15. Jahrhundert. Die Kochbücher stammen aus höfischem Umfeld oder aus reichen städtischen Haushalten. Es finden sich daher exotische und teure Gewürze und Zutaten darin wie Safran und Muskatnuss oder Zitronen und Zucker.
Meine Lieblingsrezepte habe ich diesen Silvester in ein Menu verpackt: frittierter Spinat und Kaiserkrapfen zum Apero, Zanzarellisuppe als Vorspeise, Heidnischer Kuochen mit Kohleintopf zum Hauptgang und die Sahnetorte mit Safran als Dessert!

Wo finden Sie die schönen Kostüme, die Sie jeweils zu den Events tragen?

Die mittelalterlichen Kleider sind alle selbst genäht, entweder von der Trägerin selbst oder in Auftrag gegeben. Da ist auch immer wichtig zu entscheiden, welche Zeit vermittelt werden will: Ende 14. Jahrhundert trug man andere Schnitte als 50 Jahre später! Dazu gehören auch die richtige Haube und passende Accessoires. Wobei ich immer wieder betonen muss, dass wir in der Geschichtsvermittlung im Museum Aargau kein Reenactment machen, also nicht 100 % Authentizität und komplette Handarbeit garantieren können und wollen. Dazu fehlt uns die Zeit – und auch das Geld. Ausserdem erzählen wir in den Schlössern jeweils 1000 Jahre Geschichte, da braucht es einen Pragmatismus: Unsere «Mägde» im Mittelalterkleid zum Beispiel können durch die Zeit reisen und auch im Wohnmuseumsraum des 20. Jahrhunderts Geschichte erzählen. Die Kostüme aus der Barockzeit, Belle Epoque oder dem Empire haben wir bei sehr guten Kostümschneiderinnen gekauft.
Wir haben also einen grossen Fundus an vielen Kostümen aus verschiedenen Zeiten für die Vermittlung!

> Museum Aargau