Dr. phil. / Dipl. Coach Regula Stämpfli (50), Politik-Dozentin mit Schwerpunkt Hannah Arendt, political Design and Digital Transformation, Bestseller-Autorin und unabhängige wissenschaftliche Beraterin für die Europäische Union, ist eine der anerkanntesten Experten für Demokratie, Medien und Digitalisierung.
Sie ist in Brüssel, Zürich und Paris tätig, wohnt in München und ist Mitglied in zahlreichen internationalen Forschungsinstitutionen und Stiftungen.
@laStaempfli – so ihr Zwitschername – fungiert immer wieder im Who is Who der Schweiz und wurde 2016 unter den 100 einflussreichsten Businessfrauen der Schweiz angeführt.
Frau Stämpfli, was hat der Feminismus in der Schweiz bis jetzt erreicht?
Regula Stämpfli: Dass man darüber redet, ist schon mal was!
Was noch nicht?
Dass dies auch gesellschaftliche, politische und ökonomische Konsequenzen hat.
Echt jetzt, so wenig?
Naja. Seien wir gnädig: Die Einführung des Frauenstimm- und wahlrechtes, die Rechtsgleichheit und die Tatsache, dass Tausende von Frauen nicht mehr bei Abtreibungen oder Geburten sterben, dass sie nicht wie in unzähligen Gegenden aufgrund ihres weiblichen Körpers beschnitten, verhüllt oder sonstwie regelrecht zurechtgeschneidert werden, ist in den westlichen Demokratien mal schon ganz weit vorne. Doch grundsätzlich wird grad in den letzten Jahren die Streuwaffe Sexismus so eingesetzt, dass sogar der Frauenhass markttauglich gemacht wird.
Das müssen Sie nun aber erklären: Wie wird der Frauenhass markttauglich gemacht?
Frauen sind seit Jahrhunderten das beherrschte Geschlecht, was in vielen Gesellschaften zu unmenschlich grosser und brutal weiblicher Anpassung geführt hat und führt. Schauen Sie in die Geschichte und Sie entdecken weibliche Mittäterschaft bis zum Abwinken. Bis ins 20. Jahrhundert brachen in China ältere Frauen den kleinen Mädchen »aus guten Familien« die Fussknochen, banden anschliessend die Füsschen gewaltsam ab und nannten diese Tortur euphemistisch »Lotos-« oder »Lilienfuss.« In mehr als zwei Dutzend Ländern schneiden Matronen kleinen Mädchen – ohne Betäubung – mit Flaschenscherben, Rasierklingen oder Messern weitflächig den Genitalbereich ab, die Wunde wird mit Pferdehaar und Akaziendornen vernäht. Weibliche Föten werden hunderttausendfach abgetrieben. Im westlichen Europa wurden Frauen zuerst verbrannt, dann in unglaubliche Moden gesteckt: Stocksteife Mieder pressen die Brüste flach, die Taille wurde mit zwei Stahlfedern an der Seite auf wenige Zentimeter zugeschnürt. Die Zurichtung des weiblichen Körpers hat sich in den westlichen Demokratien im Laufe der Zeit unter die Schädeldecke verlagert: Jede Marter-, Unterdrückungs- und Disziplinierungspraxis im und am weiblichen Körper wird nun, nicht zuletzt Judith Butler sei Dank, als »Freiheit« gepriesen. Sogar auf den Verkauf des eigenen Körpers wird ein Hohelied gesungen und unter dem Begriff »Sexarbeit« abgrundtief bösartig verharmlost. Was ich mit all diesen Beispielen sagen will: Der Weg von Anpassung zur Unterwerfung wird von Frauen viel zu oft gegangen. Frauen entwickeln als das beherrschte Geschlecht sehr häufig eine Skrupellosigkeit, die entsetzt. Dem Willen zur Stabilität und Tradition wird die weibliche Freiheit geopfert. Dies äussert sich heutzutage in der Warenwerdung der Frau, der die Menschwerdung der Frau geopfert wird.
Klingt sehr ernüchternd. Können die Männer in dem Fall mehr zum Feminismus beitragen?
Selbstverständlich, wenn es darum geht, die Strukturen der Unfreiheit und der mangelnden Demokratie mit konkreten politischen Handlungen (die meist immer noch in Männerhand liegen) zu beseitigen. 1776 erkämpften die amerikanischen Verfassungsväter ihre Unabhängigkeit mit dem Schlachtruf: »Keine Steuern ohne politische Repräsentation.« Auf unsere Gegenwart übersetzt, hiesse dies bsp. »Keine Daten ohne politische Repräsentation.« Die Gültigkeit des universellen politischen Versprechens für die Freiheit des Einzelnen, die Gleichheit und Solidarität im öffentlichen Raum muss sich in konkreter Politik niederschlagen. Feministisch wäre da beispielsweise, nur Freihandelsabkommen mit Staaten zu schliessen, die gleichzeitig auch die rechtliche Ungleichstellung der Frauen beseitigen (oder beseitigt haben). Die Verwirklichung von Demokratie und Gleichstellung ist immer auch eine Zoll-, respektive Steuer- und Zinsfrage. Sie sehen: Feminismus ist für mich nur einer, wenn strukturell und machtpolitisch durchgedacht, nicht wenn er einfach als »markttauglich« in neuem Unterdrückungskostüm verkauft wird. Feminismus ist nur dann Freiheit, wenn die Mittäterschaft von Frauen und Männern zwecks Stabilisierung der Verhältnisse aufhört und durch die Beseitigung der privaten Not der Einzelnen. Demokratie bedeutet Freiheit von privaten (ökonomischen, kulturellen, religiösen, medialen) Zwang und Freiheit zur politischen Partizipation und Gestaltung von Macht.
Nach wie vor arbeiten viele Frauen ehrenamtlich und stehen nach einer Scheidung oder im Alter mittellos da, wie könnte das geändert werden?
Indem dem »doppelten Gebrauchswert der Frau« (Beatrix Messmer) genügend Rechnung getragen wird. Die Verwirklichung der Lohngleichheit, die gerechte Verteilung von Machtpositionen und die Erleichterung der Reproduktionsarbeit (sprich Krippen und Tagesschulen) werden ja in allen Ländern, die sich anständiger Gleichheitspolitik zwischen Mann und Frau (Skandinavien, Frankreich, Belgien, die Niederlande) rühmen können, schon praktiziert.
Welche Feminismus-hemmende Faktoren gibt es?
Männer, die an ihrer Situation nichts ändern wollen.
Frauen, die an ihrer Situation nichts ändern wollen oder können.
Kulturelle und religiöse Gründe – die auch ein Vorwand sein können.
Gewalt, die aus Gewehrläufen kommt und die Macht des gemeinsamen, demokratischen Handelns radikal zum Verstummen bringt.
Wie wäre Ihr Leben verlaufen, wenn Sie ein Mann wären? Wie wäre Ihr heutiger Alltag?
Ich hätte mehr Geld, eine bessere Pension, einen dickeren Bauch, meine Kinder würden meinen Betrieb weiterführen und ich wäre ein Mann in den besten Jahren, sprich ein unbelehrbarer Macho wie die meisten meiner männlichen Zeitgenossen. Zudem hätte ich meine Intelligenz darauf verwendet, Macht zu erringen, statt Wirklichkeit und Wahrsprechen in Einklang zu bringen und versuchen, die Welt besser zu verstehen.
Ist 2019 das Jahr der Frauen?
Jedes Jahr ist das Jahr der Frauen.
Frauen sind weltweit in der Mehrzahl. Diese Macht wird jedoch durch Gewalt, Kultur, Medien und weibliches Dazutun meist gebrochen.
Welche Feminist_innen sollten unsere Leser_innen kennen?
Geht es um Politik, Hannah Arendt. Geht es um Sexualität Anais Nin. Geht es um Medien und kulturelle Definitionshoheiten, Regula Stämpfli. Geht es um Geschichte, Gerda Lerner, Carola Meyer Seethaler, Mary Wollstonecraft, Simone de Beauvoir, Martha Nussbaum und Philipp Blom. Geht es um Identität, Amanda Ngozi Adichie. Geht es ums poetische Menschsein helfen Shakespeares Sonnetten. Geht es um Religion, Deborah Feldman und Kamel Dhaoud. Haben Sie Liebeskummer? Else Laske-Schüler hilft. Brauchen Sie mehr Namen von grossen Menschen und Vorbildern? Dann schauen Sie doch bei bsp. bei Lilo König oder Emrah Erken auf Facebook rein.
Titelfoto: Sascha Swiercz
Treppenfoto: Regula Stämpfli
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