Barbara Gysi, Nationalrätin und SP-Vizepräsidentin
Frau Gysi, was hat der Feminismus in der Schweiz bis jetzt erreicht? – Was noch nicht?
Barbara Gysi: Frauen sind insgesamt sichtbarer geworden. Gewalt gegen Frauen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Lohndiskriminierung etc. sind thematisiert. Viele Massnahmen wurden erarbeitet und haben zu Verbesserungen für Frauen geführt. Und doch stossen Frauen immer wieder an und werden diskriminiert, ist Sexismus schleichend im Alltag präsent.
Frauen verdienen immer noch viel weniger, Frauenberufe sind massiv unterbezahlt und die Arbeitsbedingungen in Frauenberufen meist nicht über Gesamtarbeitsverträge geschützt. Vereinbarkeit von Beruf und Familie führt für Frauen zu massiven Belastungen und oft auch zu Benachteiligung beim beruflichen Fortkommen. Weibliche Führungskompetenzen werden in Frage gestellt, wir werden häufiger in Diskussionen unterbrochen, kommen weniger in den Medien vor.
Können Männer etwas zum Feminismus beitragen?
Auf jeden Fall und sie müssen auch. Männer können dazu beitragen, die Rollenbilder zu durchbrechen und auch für sich Vereinbarkeit von Beruf und Familie einzufordern. Sie können gemeinsam mit uns für bessere Frauenlöhne und gegen Gewalt einstehen.
Nach wie vor arbeiten viele Frauen ehrenamtlich und stehen nach einer Scheidung oder im Alter mittellos da, wie könnte das geändert werden?
Die Care-Arbeit muss unbedingt aufgewertet werden und besser abgegolten werden. Betreuungsarbeit muss in der AHV noch besser (zu einem höheren Ansatz) und endlich auch in der Pensionskasse solidarisch abgegolten werden. Mehr Care-Arbeit muss bezahlt werden. Die Care-Berufe müssen zwingend höhere Löhne bekommen und die Arbeitsbedingungen mit Gesamtarbeitsverträgen verbessert und abgesichert werden.
Welche Feminismus-hemmende Faktoren gibt es?
Stereotype Bilder, wie Frau* zu sein hat.
Wie wäre Ihr Leben verlaufen, wenn Sie ein Mann wären? Wie wäre Ihr heutiger Alltag?
Eine schwierige Frage. Ich hätte auf jeden Fall nie tauschen wollen. Auch wenn ich immer angestossen bin, konnte ich doch viele meiner Träume realisieren.
Ist 2019 das Jahr der Frauen?
Dieses Jahr ist ein wichtiges Jahr für uns Frauen. Nach der Minireform zur Lohngleichheit muss es jetzt endlich vorwärts gehen und Frauen müssen höhere Löhne bekommen. Den Schwung wollen wir nutzen, um griffige Massnahmen gegen die Gewalt an Frauen zu erreichen und in den Wahlen so viele Frauen wie noch nie ins Parlament zu bringen. Die Frauen aller Generationen und politischer Haltung sollen gemeinsam kämpfen, um am 14. Juni einen Frauenstreik mit Auswirkungen zu feiern.
Welche Feminist_innen sollten unsere Leser_innen kennen?
Schon als junge Frau war ich beeindruckt von Simone de Beauvoir und ihren Texten.
Als linke Frau natürlich Rosa Luxemburg.
Die Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch hat mein Sprachbewusstsein geschärft.
Aber auch Annemarie Schwarzenbach, die Weltenbummlerin und Abenteuerin beeindruckt mich.
Florence Nightingale, die Begründerin der modernen Krankenpflege.
Feministinnen mit Migrationshintergrund wie Audre Lorde und der jüngeren Generation wie Laurie Penny.
Webseite von Barbara Gysi: www.barbara-gysi.ch