Andrea Gisler, Rechtsanwältin mit eigener Kanzlei, war von 2011 bis Mai 2019 Präsidentin der Frauenzentrale Zürich. Ab Sommer 2019 wird sie die GLP im Kantonsrat vertreten. Sie ist im Vorstand von alliance F (Dachverband der Schweizerischen Frauenorganisationen) und vom Frauenhaus Zürcher Oberland. Seit Mai 2019 ist Andrea Gisler im Kantonsrat und Vizepräsidentin der Grüniberalen Fraktion.
Frau Gisler, nach acht Jahren sind Sie im letzten Mai als Präsidentin der Frauenzentrale Zürich zurückgetreten. Wie haben sich die Themen in dieser Zeit verändert?
Die Themen haben sich in diesen acht Jahren kaum verändert. Im Vordergrund stehen nach wie vor Gewalt gegen Frauen, Lohnungleichheit, die angemessene Vertretung von Frauen in Führungspositionen und in der Politik sowie die Care-Arbeit. Geändert hat sich, dass der Feminismus im Mainstream angekommen ist. Die #MeToo-Debatte und die Wahl von Donald Trump haben viele Frauen aufgerüttelt. Das hat der Frauenbewegung in jüngster Zeit viel Schwung gegeben.
Die letztjährige Kampagne «Für eine Schweiz ohne Freier», hat besonders hohe Welle geworfen. Was war das Ziel dieser Kampagne?
Unser Ziel war, eine gesellschaftspolitische Debatte anzustossen: Ist Prostitution vereinbar mit der Menschenwürde? Was sagt die Prostitution über das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern aus? Wie sollen Freier zur Verantwortung gezogen werden? Während sich andere Länder in den letzten Jahren intensiv mit dem Thema beschäftigt haben, pflegt die Schweiz die schummrig-plüschige Idylle. Man hat sich darauf geeinigt, das Geschäft mit dem Sex und der Ware Frau in Ordnung zu finden und will gar nicht so genau wissen, was im Verborgenen abläuft.
Noch nie ist eine Kampagne der Frauenzentrale auf so viel Resonanz gestossen, nicht nur in der Schweiz, auch im Ausland. Der Videoclip hat auf Facebook über 635’000 Personen erreicht, er wurde mehr als 4’600 Mal geteilt – für Schweizer Verhältnisse überwältigende Zahlen. Für mich persönlich ist klar, dass Prostitution weder Sex noch Arbeit ist, sondern Gewalt und Ausbeutung.
Was hat der Feminismus in der Schweiz bis jetzt erreicht? – Was noch nicht?
Die rechtliche Gleichstellung ist weitgehend erreicht. 1971 erhielten die Frauen das Stimm- und Wahlrecht. Zehn Jahre später wurde die Gleichberechtigung von Frau und Mann in der Bundesverfassung verankert. 1988 trat das neue Eherecht in Kraft, 1996 das Gleichstellungsgesetz. Seit 2001 ist der Schwangerschaftsabbruch straflos, und 2005 führte die Schweiz als letztes Land in Europa die Mutterschaftsversicherung ein. Diese Erfolge dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es an der Umsetzung hapert, und zwar in vielen Bereichen. Im Global Gender Gap Report 2018 – ein vom Weltwirtschaftsforum erstellter Bericht, der die Gleichstellung der Frauen analysiert – erreicht die Schweiz nur den 20. Platz. Viel Nachholbedarf sieht der Bericht bei der wirtschaftlichen Beteiligung der Frauen. Die Schweiz wird den Anschluss verlieren, wenn es ihr nicht gelingt, das Potential der Frauen besser zu nutzen.
Welche Feminismus-hemmende Faktoren gibt es?
Hinderlich sind alte Rollenbilder, die in der Schweiz ganz tief in den Köpfen verankert sind. Der Mann ist der Ernährer, die Frau kümmert sich um die Kinder und den Haushalt. Unser ganzes Sozialversicherungssystem und der Arbeitsmarkt sind auf diesem Modell aufgebaut. Mittlerweile ist es zwar gesellschaftlich akzeptiert, dass eine Mutter erwerbstätig ist, über ein Kleinpensum hinaus sollte das berufliche Engagement dann aber doch nicht gehen. Für sich spricht, dass Väter und Mütter, die voll erwerbstätig sind, unterschiedlich beurteilt werden, obwohl sie genau dasselbe tun. Überhaupt sind viele Vorurteile vorhanden, die Fortschritte bei der Gleichstellung behindern, zum Beispiel dass Frauen keine beruflichen Ambitionen haben oder dass schöne Frauen nicht intelligent sein können oder dass Frauen fürsorglicher und warmherziger sind. Frauen, die dem weiblichen Ideal nicht entsprechen, sind beliebtes Angriffsziel.
Selbst im aufgeklärten 21. Jahrhundert werden Religion und Kultur immer noch zum Vorwand genommen, um Frauen zu unterdrücken und sie in ihren (sexuellen) Freiheiten zu beschneiden. Eindrücklich wird dies im Film «#Female Pleasure» der Schweizer Regisseurin Barbara Miller gezeigt. Diesen fundamentalistischen Strömungen ist entschieden entgegen zu treten. Das Gebot der Nichtdiskriminierung und die Gleichbehandlung der Geschlechter sind Grundwerte, die universal gelten und nicht verhandelbar sind.
Welche Frauen sollten unsere Leserinnen und Leser kennen?
Emilie Kempin-Spyri (1853-1901), eine Vorkämpferin für die Rechte der Frauen. Wäre ihr Leben nicht von Eveline Hasler literarisch aufgearbeitet worden («Die Wachsflügelfrau»), würde heute kaum jemand die erste Juristin Europas kennen.
Iris von Roten (1917-1990), die 1958 das Buch «Frauen im Laufgitter» veröffentlichte. Schonungslos analysierte sie in ihrem Buch die Lage der Frau in der Schweiz und forderte die Gleichstellung der Frau in allen Bereichen. Sie war ihrer Zeit weit voraus, wurde angefeindet und erfuhr erst spät die ihr gebührende Wertschätzung.