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Gerichtshof für Menschenrechte

Dr. Helen Keller (*1964) ist Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.

Frau Keller, wie wird man Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?

Dr. Helen Keller: Ich habe mich rund zehn Jahre mit völker- und menschenrechtlichen Fragen auseinandergesetzt. Mein Fokus in der Forschung war die Schnittstelle zwischen internationalem und nationalem Recht. Mich interessierte die Frage: Wie funktionieren internationale Gerichte und wie reagieren die nationalen Instanzen auf die internationalen Entscheide? Das war eine gute Voraussetzung, um Richterin zu werden. Richterin am Europäischen Gerichtshof wird man allerdings nicht aufgrund einer bestimmten Karriere, sondern durch viel harte Arbeit und Engagement. Schliesslich muss frau im richtigen Moment an der richtigen Stelle sein und den Mut haben, die Gelegenheit beim Schopf zu packen.
Neben der Ausbildung und dem Werdegang ist es auch wichtig, dass man einen tadellosen Leumund hat. Man muss sich den Ruf verschaffen, unabhängig und kompetent zu sein. Man muss stark genug sein, um den Druck auszuhalten, der unweigerlich von verschiedenen Seiten ausgeübt wird. Eine Richterin muss in jedem einzelnen Fall unabhängig und unparteiisch – nur den Menschenrechten verpflichtet – entscheiden. Das ist eine grosse Verantwortung.

Was sollten junge Frauen beachten, die sich für dieses Amt interessieren?

Das Handwerk muss gelernt sein. Menschenrechte sind ein weites Forschungsfeld. Ich empfehle den jungen Frauen, sich breit zu bilden. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts in diesem Gebiet gehört zur Pflichtlektüre.
Als Juristin muss man sprachlich sattelfest sein. Wenn man international tätig sein will, gehören neben der Beherrschung der Muttersprache auch sehr gute Fremdsprachenkenntnisse dazu. Englisch allein reicht nicht, auch Französisch ist eine wichtige Arbeitssprache am EGMR. Das sollte nicht unterschätzt werden.
Bei der Bewältigung der vielen Arbeit ist es unabdingbar, dass man sich gut organisieren kann. Arbeitstechnik ist das A und O. Dazu gehört auch ein fairer Umgang mit den Mitarbeitern und Kollegen. Beratungen in einem Verhandlungssaal mit 16 anderen Richterinnen und Richter sind anspruchsvoll. Die Fälle schwierig, manchmal dramatisch. Deshalb darf man bei seinen Voten weder zu emotional noch verletzend sein. Eine gute Richterin spielt immer auf den Ball, nie auf den Richterkollegen und ist immer sachlich. Gegenüber den Kollegen und Kolleginnen ist ein absolut korrekter Umgangston unabdingbar, sonst verschlechtert sich die Atmosphäre im zwischenmenschlichen Bereich so sehr, dass sich das auch auf das Verhandlungsergebnis auswirken kann.
Schliesslich glaube ich, dass ich es ohne meine Familie und meine Freundinnen nicht geschafft hätte. Auf sie konnte ich immer zählen, sie haben mich in jeder Hinsicht immer unterstützt. Dieser emotionale Rückhalt hat mir die nötige Kraft gegeben. Deshalb war und ist es mir wichtig, dass ich dieses soziale Umfeld pflegen kann.

Foto: Markus Senn, SonntagsBlick

> Prof. Dr. iur. Helen Keller, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht, Universität Zürich
> Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA
> Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (fr/en)

Transnormal

Claudia Sabine Meier (*1968) gilt als eine der bekanntesten zeitgenössischen Transfrauen der Schweiz. Sie setzte verschiedene Präzedenzfälle für Transgendermenschen durch. (Die Schweiz hat kein spezielles Gesetz für Transmenschen.) So konnte sie den Namen und den Personenstand ändern, ohne medizinische Massnahmen vollziehen zu müssen.
Claudia Sabine Meier lebte 41 Jahre als Andreas Meier. 2012 wurde sie zur ersten Transgender-Frau in der Schweizer Armee. Mit Vorträgen und Workshops engagiert sie sich für mehr Verständnis in der Gesellschaft für Transmenschen.

Frau Meier, Sie lebten über 40 Jahre ein Leben als Mann, obwohl Sie sich als Frau fühlten. Wie hält man das so lange aus?

Claudia Sabine Meier: Es ist, als wäre man in einem Zimmer, ohne Fenster und Licht eingesperrt und keiner kommt je zu Besuch. Es ist bedrückend und schmerzhaft. In meinem Buch «Oh Mann, Frau Meier» beschreibe ich dieser Zustand ausführlich.
Jahrzehnte lang führte ich ein Doppelleben: Niemand der Andreas kannte, durfte wissen, dass es Claudia gibt und niemand der Claudia kannte, durfte wissen, wer sie ansonsten ist oder wo sie arbeitet. Zu gross war die Angst vor möglichen Konsequenzen. Zu sehr fürchtete ich, als Unternehmer und Hotelier erpressbar zu werden. Es war eine Grenzerfahrung im wahrsten Sinne des Wortes. Andreas war für mich eine Rolle, die von mir erwartet wurde und die ich für die Gesellschaft, die Familie, meine Gäste und Mitarbeiter, für Freunde und Bekannte leben musste.

Das erwähnte Buch beinhaltet übrigens auch viele humorvolle Stellen. Es hat einerseits Tiefgang, ist aber auch mit Selbstironie gespickt. Ich sage immer: «Es ist das ideale Nachttischbuech».

Gab es einen speziellen Auslöser für Ihr Coming-out?

Ja, irgendwann fürchtete ich, dem Druck nicht mehr standhalten zu können. Ich wusste, wenn ich so weiter mache, werde ich sehr bald tot sein. Schlussendlich war es ein glücklicher Umstand, ein Telefonanruf, der mich wach rüttelte. Danach wusste ich: «Jetzt musst du dir Hilfe suchen!»
Irgendwie hatte ich gehofft, auf wundersame Weise «Claudia» verdrängen zu können. Ich wollte, dass sie Ruhe gibt und mich als Mann, denn ich zu sein hatte, leben lässt.
Später wurde ich jedoch durch die Begleitung einer Fachperson eines Besseren belehrt. Man kann den eigenen Kern nicht umprogrammieren. Ich lernte verstehen und merkte bald einmal, dass ich keine Wahl hatte und dass ich nur als Claudia weiterleben und überleben konnte.

Hat Sie die Geschlechtsanpassung auch innerlich verändert?

Jein. Ich weiss, diese Antwort ist verwirrend. Die körperliche Anpassung hat mich eher weniger verändert, aber die Tatsache, mich nicht mehr verstellen zu müssen, schon. Das war unbeschreiblich befreiend. Ich verwandelte mich vom introvertierten, verschlossenen, mürrischen Misanthropen zur lachenden, fröhlichen und menschennahen Claudia. Ich hatte gelernt, was es bedeutet, frei zu sein. Das verändert einen Menschen viel mehr als Hormone das tun können.

Laut militärischer Krankheitslehre sind Transsexuelle zwingend dienstuntauglich. Wie kam es, dass Sie trotzdem Dienst leisten konnten?

Weil ich statt Haaren, Fell auf den Zähnen habe. – Nein im Ernst: Ich verfasste ein Wiedererwägungsgesuch. Dieses Gesuch wurde von einem sehr tollen und openmindeten Arzt beurteilt, der sagte: «Es wird langsam Zeit, mit diesen alten Vorurteilen aufzuräumen».

Dem ersten Arzt hatte ich gesagt: «Dokter, ich weiss ja nid wie’s bi euch isch, aber mit dem wo mär hüt fählt, dänke ig ja nid …». Meine Fähigkeiten hatten sich nicht verändert. Sie wurden ja nicht weniger wegen dem kleinen Schnitt im Schritt. Offenbar war dieser Rekrutierungsarzt anderer Meinung.
Nun gut, die Armee war dann kurzzeitig recht überfordert mit dem Entscheid des Oberfeldarztes und dem des zweiten Rekrutierungsarztes. Zuerst wurde ich mit der Aussage abgespiesen, dass man sich im Moment, «auf Grund meiner Vergangenheit», für einen anderen Kandidaten entschieden habe … Dies wiederum wirkte bei mir, als hätte man Öl ins Feuer gegossen. Zuletzt, nach einigem Hin und Her, durfte ich als Koch mit in die Friedensförderung. Nicht aber, wie ursprünglich offeriert, als Quartiermeister. Hierfür fehlte der Abteilung SWISSINT die Courage. Dennoch möchte ich betonen, dass es nie einfach ist, Veränderungen zu bewirken. Die Armee hat gelernt mit mir umzugehen – oder jedenfalls der allergrösste Teil der Menschen dort. Und das ist gut so.

> www.claudia-meier.ch

Yoga und Pilates

Joannie von Ritter (*1975) hat sich einen Traum erfüllt und ihr eigenes Studio für Yoga und Pilates in Winterthur eröffnet. Sie ist ausgebildete Turn- und Sportlehrerin (ETH Zürich) sowie zertifizierte Yogalehrerin und Pilatestrainerin.

Frau von Ritter, wie kam es, dass Sie Yoga- und Pilateslehrerin wurden.

Joannie von Ritter: Nach meinem Sportstudium habe ich mich entscheiden müssen – entweder in Richtung Sportlehrerin an einer Schule oder in Richtung Sporttherapie / Fitnessbranche zu gehen. Meine erste Arbeitsstelle war im Movemed in Zürich, eine Sportklinik mit Ärzten, Physiotherapie, Leistungsdiagnostik und medizinisches Trainingscenter, alles unter einem Dach. Schon dort entdeckte ich Trainingsmethoden für die stabilisierenden Muskeln, welche verantwortlich für die Haltung sind und die Wirbelsäule stabilisieren. Ein Training dieser Muskulatur kann manche Rückenprobleme und Schmerzen lindern.
Dann kam die Zeit in der Fitnessbranche in einem Fitnesspark in Zürich. Dort entdeckte ich meine Leidenschaft, diverse Kurse zu unterrichten, also als Kursleiterin vor einer Gruppe hoch motivierter und dankbarer Leute zu stehen und diese zum Sport anzutreiben. Darunter auch Pilates-Mattenkurse. Besonders beim Pilates-Unterricht bemerkte ich, wie wichtig es ist, verbal so wie taktil höchst präzise zu unterrichten und so meine Teilnehmer_innen da abzuholen, wo sie gerade sind. Es folgten diverse Pilates Ausbildungen im Bereich der klassischen Pilates Geräte. Darunter der Reformer, der Cadillac, der Chair und der Barrel. Alles klassische Pilates-Geräte, an welchen sehr abwechslungsreich, hoch effizient und kontrolliert trainiert werden kann.
Als dann in Zürich die Yoga-Welle ins Rollen kam, wurde auch ich mitgerissen. Im Gegensatz zum Pilates gab mir Yoga mehr Ruhe und Ausgleich. Ich erinnere mich noch ganz genau an das Gefühl, das ich nach meiner allerersten Yogastunde hatte – tiefste Zufriedenheit, Gelassenheit, Glück und der Alltag schien stehen zu bleiben oder zumindest sich zu verlangsamen. Ich erlebte einfach nur mich im Moment, im Jetzt, bei mir selbst. Darauf folgte ein Teacher Training in Santa Monica USA und zurück in der Schweiz, meine ersten Yoga-Unterrichtserfahrungen. Das Schöne an Yoga ist, dass ich in jeder Klasse, bei jede_r Yogalehrer_in immer etwas dazu lerne, sei dies auf körperlicher oder geistiger Ebene.

Wer profitiert von diesen Trainingsmethoden?

Profitieren können alle Altersgruppen. Man muss einfach zuerst herausfinden, ob man eher der «Yoga-Typ» oder der «Pilates-Typ» ist. Beim Yoga geht es mehr um traditionelle Abläufe, das Halten der Asanas (Yogapositionen), ein «Dehnen mit indischem Hintergrund», ein Loslassen vom Alltag. Das heisst aber keineswegs, dass Yoga nicht kraftvoll sein kann.
Pilates ist aktiver, ein Krafttraining für die stabilisierende Muskulatur. Aber auch beim Pilates geht es um Flexibilität, um das Gefühl beweglicher zu werden. Vor allem ein Reformer-Training zielt neben Kräftigung und Aufbau der Muskeln auf eine Erweiterung des Bewegungsumfanges hin. Ein intensives, ganzheitliches Training, welches Beweglichkeit, die Balance und die Koordination verbessert.
Besonders geeignet ist Pilates für Menschen mit Rückenproblemen, für solche, die nach einer Verletzung des Bewegungsapparates wieder gezielt Muskulatur aufbauen müssen, für Menschen mit einem sitzenden Arbeitsalltag, als Ausgleich und Unterstützung zu anderen Sportarten.

Sollten wir uns alle etwas öfters bewegen?

Bewegung, Schlaf und Ernährung, die Säulen des Anti-Aging. Wer sich regelmässig bewegt (im Sinne von sportlicher Tätigkeit), genügend schläft und sich bewusst und gesund ernährt, hat die besten Voraussetzungen für ein langes Leben. Doch wer kennt ihn nicht, den inneren Schweinehund, der uns immer wieder überlistet? Anstatt zum Sport zu gehen, machen wir es uns manchmal lieber auf dem Sofa gemütlich und schauen uns genau diesen Film an, den wir schon lange sehen wollten … und ausserdem ist es draussen kalt und regnerisch … und man ist einfach zu müde, sich nochmals aufzuraffen …
Manchmal geht’s auch mir so, aber ich versuche, meinen Sport fix in der Agenda in meinem Wochenplan einzutragen und mich daran zu halten. Denn das Gefühl danach ist um einiges besser als der Film im TV, an dessen Titel ich mich zwei Tage später nicht mal mehr erinnern kann.

Nun haben Sie ein eigenes Studio eröffnet. War das für Sie eine leichte Entscheidung?

Die Entscheidung kam nicht von heute auf morgen. Die Tatsache, dass ich bereits seit knapp acht Jahren als selbstständige Personal Trainerin in Zürich in einem Studio arbeite und das Pendeln etwas leid war, meine Tochter in den Chindsgi kam, ich mir mit meinen 42 Jahren zu überlegen begann, wie ich meine nächsten 20 Jahre Arbeitsalltag umgestalten könnte, führte mich dazu, den Schritt zu wagen, und mein eigenes Studio, meinen Ort des Wohlbefindens, zu eröffnen. Ich bereue es keine Sekunde, es war der richtige Moment, der perfekte Zeitpunkt und der ideale Ort dazu.

www.yopini.ch

Stadtgeiss-Hirtin

Julia Hofstetter (*1971 ) ist unter anderem als Hirtin von sieben Stadtziegen in Zürich Nord tätig.

Frau Hofstetter, Sie haben den Verein Stadtgeiss gegründet. Wie kam es dazu und was genau tut der Verein?

Julia Hofstetter: Es fing damit an, dass ich in Zürich Nord eine Hektare Land pachtete. – Ich war übrigens verblüfft, dass es überhaupt möglich ist, mitten in Zürich eine Wiese zu pachten. Zu jenem Zeitpunkt wurde ich von einer Sinnkrise durchgeschüttelt. Ich war sehr müde, hatte zuvor in einer Klimaschutzorganisation die Abteilung Umweltbildung aufgebaut und war voller Zweifel, wusste nicht, ob Klimaschutz in dieser Form Sinn macht und, ob die Projekte, die ich erfunden hatte, etwas taugten. Nach vielen Jahren Engagement kam plötzlich alles ins Wanken. Ich schmiss diesen Job hin und wusste nicht weiter.

Deshalb war die Wiese für mich ein Geschenk. Ein Ort, wo ich mich in die Arbeit stürzen und mir meine Verzweiflung aus dem Leib hämmern konnte. Ich habe viel gehämmert. Und gesägt. Und gemalt. Brennnesseln und Disteln ausgerissen. Und dann habe ich Stiefelgeissen gekauft. Ganz ohne Plan. Erst als der Stall fertig und die Ziegen da waren wuchs die Idee vom Verein Stadtgeiss. Die Idee, dass ich die Wiese aufmachen und die Quartierbevölkerung einladen könnte, den Ort mitzugestalten.

Was der Verein tut?

Ich habe zum Beispiel mit den Ziegen Schulklassen auf dem Pausenplatz abgeholt. Dann sind wir zusammen durch die Stadt gezogen. Kinder brauchen Mut, Kraft und Zuversicht, wenn sie die starken Ziegen führen. Stiefelgeissen sind grosse Tiere. Mir ist es wichtig, dass Kinder in unserem sehr geregelten Alltag auch diese Momente leben können, in denen es etwas gefährlich wird. Momente, in denen sie sich selber spüren – und auch die Ziegen. Da können sie über sich hinauswachsen.
Heute, fünf Jahre später ist der Verein Stadtgeiss im Quartier angekommen. Von der grossen Eiche hängt eine Schaukel. Im Zirkuswagen spielen wir Puppentheater. Es ist ein schöner Ort geworden. Wir haben gemeinsam einen Park gestaltet und uns so ein Stück Stadt angeeignet. Hier gehört die Natur zur Stadt. Menschen begegnen sich, Tiere springen herum und alle dürfen stürmisch, frech und fröhlich sein.
Manchmal inszenieren wir einen wilden Alpaufzug in ein anderes Stadtquartier. Jetzt gerade weiden die sieben Stiefelgeissen in Zürich Affoltern, wo sie einen steilen Hang von Brombeeren befreien.

Zeichnung und Fotos: Julia Hofstetter

www.stadtgeiss.ch

Politjournalismus und Strategie

Susanne Wille (*1974) kennt fast jede_r in der Schweiz. Die Politjournalistin arbeitet für das Nachrichtenmagazin 10vor10, moderiert diverse Sendungen und realisiert Reportage-Serien aus der ganzen Welt.

Frau Wille, Sie sind schon lange im Journalismus tätig. Wie hat sich die Nachrichtenwelt in den letzten Jahren verändert?

Sie hat sich stark verändert. Wenn ich meine erste Nachrichtensendung vor 18 Jahren mit einer Sendung von heute vergleiche, wird das deutlich. Ich fasse den Wandel mit drei Schlagwörtern zusammen: Tempo, Transparenz, Treffpunkt.

Stichwort Tempo: Das Nachrichtengeschäft ist viel schneller geworden. News, Videos, Schlagzeilen werden rund um die Uhr um den Globus gejagt, sind für alle jederzeit zugänglich. Wer heute eine Nachrichtensendung um 10vor10 schaut, hat meist das Wichtigste schon mitbekommen, via Internet oder Smartphone. Darum ordnen wir das Geschehene noch stärker ein als früher und setzen auf einen Schwerpunkt pro Sendung, um die News zu vertiefen. Wir dürfen dabei aber nicht nur an die eigene Sendung denken. Unsere zentralen Geschichten müssen schon vorher auf unserem Webangebot zu finden sein. Denn immer mehr Menschen informieren sich online.

Der zweite grosse Begriff ist Transparenz. Heute müssen wir stärker erklären, warum wir auf ein bestimmtes Thema setzten, wie wir bei einer Recherche vorgehen, warum wir diesen Gast eingeladen haben und nicht jenen. Denn unser Publikum schaut kritisch hin und gibt Rückmeldungen. Früher gefielen wir Journalisten uns in der Rolle jener, die quasi die alleinige Deutungshoheit über ein Ereignis hatten, und es war nicht Standard, dass wir dem Publikum das journalistische Handwerk und die publizistischen Mechanismen aufzeigten. Doch genau das ist heute entscheidend, besonders in Zeiten von Fake News. (Ein Wort, das ich übrigens höchst ungern benutze, da falsche News keine News sind. Ich wähle es hier, um die Problematik des Vertrauensverlustes zu skizzieren.) Wollen wir aufzeigen, wie sehr wir uns bemühen, stets auf akkurate, verifizierbare Nachrichten zu setzen, müssen wir uns erklären und transparent sein. So zeige ich zum Beispiel auf den sozialen Medien Videos, die einen Blick hinter die Kulissen des Nachrichtengeschäfts liefern. Ein kleiner Beitrag, hier können wir noch ausbauen. Das hat auch mit dem dritten Begriff zu tun.

Der Treffpunkt. Eine Nachrichtensendung ist heute keine Einbahnstrasse mehr. Social Media hat die Spielregeln komplett verändert. Das Publikum diskutiert, stellt Fragen, kritisiert. Und erwartet Antworten. Ich bin als Journalistin also näher am Publikum als früher. Das heisst auch, meine Arbeit geht nach dem Lichterlöschen im Studio noch weiter. Aber das ist es mir wert.

Ein grosses Engagement! – Was genau macht die Faszination Ihrer Arbeit aus?

So viel sich verändert hat, wie ich es grad geschildert habe, so viel ist zum Glück auch gleich geblieben. Journalismus ist immer noch ein entscheidender Grundpfeiler einer funktionierenden Demokratie. Journalismus erzählt packende Geschichten, deckt Missstände auf, hinterfragt die Macht und trägt zur Meinungsbildung bei. Journalismus ist nie still, sagte mal jemand. Dieses stete Hinschauen und Weitedenken fasziniert mich noch immer. Und keiner meiner Tage verläuft gleich.

Sind Sie lieber im Studio tätig oder unterwegs?

Das Studio ist wie ein Fixpunkt. Eine Verankerung für das, was die Newswelt den Tag über beschäftigt hat. Hier fliessen die Geschichten und Interviews zusammen. Hier ordne ich das Geschehene ein: den Irandeal, die Steuervorlage, die Wahlen in Schweden. Hier führe ich Live-Gespräche mit Gästen – was ich übrigens am liebsten mache.
Als Journalistin oder Politmoderatorin unterwegs zu sein, bedeutet, den Puls zu spüren, bedeutet, mit den Menschen zu reden. Die Kombination von beiden Welten: Studio und on the road zu sein, ist sicher ideal.

Weiterentwicklung und strategische Neuausrichtung

Aber für mich ist derzeit eine andere Frage zentral: Die Medienwelt ist in einem grossen Umbruch, SRF muss sich für die Zukunft rüsten. Hier bin ich im Projektteam, das sich mit der Weiterentwicklung und der strategischen Neuausrichtung des Nachrichtenangebots befasst. Diese Verantwortung hat Priorität. Also statt den Rucksack zu schultern, um auf Reportage zu gehen, setz ich mich lieber mit unserem journalistischen Angebot und den grossen Fragen auseinander. Wie erreichen wir die jungen Menschen? Wie gelangen unsere Newsangebote zu den Bürgerinnen und Bürgern, wenn sie weniger zu fixen Zeiten vor dem TV-Gerät sitzen? Wie halten wir die Qualität, wenn Tempo und Druck steigen? Dass wir künftig noch guten Journalismus machen können, darauf kommt es an. Und dafür will ich mich einsetzen.

Ihr Job ist intensiv und doch wirken Sie immer entspannt. Gibt es dafür ein Geheimrezept?

In einem meiner Führungskurse sagte ein Dozent: «Hektik macht dumm.» Das unterstreiche ich voll und ganz. In der Hektik wird man ungenau, verliert das Einfühlungsvermögen und übersieht Wichtiges. Also versuche ich, so gut es geht, Hektik zu vermeiden, auch wenn es bei uns oft um Sekunden geht und der Druck hoch ist. Aber: Ich machte im arabischen Frühling Sondersendungen ohne einen einzigen Satz notiert zu haben, ich erlebte, wie ein zugeschalteter Gast aus Brüssel mitten in einer Live-Schaltung zum Thema Steuerflucht in unserem Gespräch einen Anruf auf seinem Mobiltelefon entgegennahm, ich musste am WEF in Davos eine Live-Debatte abbrechen, weil ein ranghoher ausländischer Politiker in der ersten Reihe ohnmächtig wurde. Ich hätte noch viele andere Beispiele. Solche Erlebnisse stärken automatisch die Nerven. Aber das heisst nicht, dass ich immer tiefenentspannt bin. Nein, das ist unmöglich. Aber ich wende tatsächlich immer den gleichen Trick an. Wenn es hektisch zu- und hergeht und alles um mich herum wuselt, dann schaue ich immer, dass die (Vor-)Freude grösser wird als die Nervosität. Wenn ich auf dem Balkon beim Brandenburger Tor wenige Minuten vor dem Start einer Wahlsendung stehe, bei der alles passieren kann, denke ich nicht an Leitungen, die noch nicht stehen, ans Ungewisse: Ich freue mich auf die Sendung. Das ist Rock ’n‘ Roll und Politgeschichte live und wir sind mittendrin.

Wie sehen Sie die Zukunft des Journalismus?

Die Zeiten des Umbruchs sind noch lange nicht vorbei. Der ökonomische Druck hält an, Werbeeinnahmen brechen weg. Aber auch unser öffentliches Medienhaus, das Gebühren bekommt, bewegt sich und muss sich weiterbewegen, damit wir auch fortan guten Journalismus machen, die Menschen erreichen können. SRF hat den Auftrag, zur Meinungsbildung beizutragen. Also müssen wir auch dort präsent sein, wo die Meinungen gebildet werden. Und das ist zunehmend im mobilen, digitalen Bereich. Wir setzen also noch stärker auf Videoformate für alle digitalen Kanäle. Die Welt dreht schneller, also muss auch SRF noch schneller reagieren können. Darum bauen wir zudem die Redaktionen um. Bis jetzt arbeiten Reporterinnen und Reporter entweder für die Tagesschau, Schweiz Aktuell oder 10vor10. Neu sind wir ab November in Fachredaktionen organisiert. Die Journalistinnen und Journalisten haben eine Dossierverantwortung in den Bereichen Wirtschaft, Inland, Ausland. Mehr Fachkompetenz also für noch mehr Einordnung.

Aber bei allen Veränderungen in der Branche: Etwas wird es meiner Meinung nach immer geben: den Wunsch nach gut recherchierten Geschichten.

Einer der Sprüche, die meine Bürowand schmücken, ist von Rainer Malkowski. Er sagte einmal «Als genug Verzweiflung vorhanden war, ist das Achselzucken in die Welt gekommen.» Genau dagegen muss der Journalismus ankämpfen. Denn das Achselzucken würde bedeuten, dass die Gesellschaft gleichgültig und somit am Ende wäre. Wir Medienschaffenden müssen uns dafür einsetzen, dass sich alle mit unserer Welt auseinandersetzen, an ihr arbeiten, so kompliziert und unübersichtlich diese Welt uns bisweilen auch vorkommt

Und noch eine Frage zum Schluss: Gibt es Frauen, die man unbedingt kennen muss?

Eigentlich meine langjährigen Freundinnen. Sie sind klug, abenteuerlustig, stark und loyal. Wir haben zusammen so viel erlebt, dass es für mehrere Leben reicht. Aber da ich Berufliches und Privates so gut es geht trenne, bin ich nicht unglücklich, wenn ich meine grossartige Frauenbande nicht mit der Öffentlichkeit teilen muss.

Foto: © SRF/Miriam Künzli

> SRF
> 10vor10

 

VR-Präsidentin eines Spitals

Beatrix Frey-Eigenmann (*1966), Kantonsrätin, engagiert sich für diverse Institutionen. Unter anderem als Verwaltungsratspräsidentin des Spitals Männedorf. Die Politikerin war bis Sommer 2018 Gemeinderätin in Meilen am Zürichsee.

Frau Frey-Eigenmann, was sind Ihrer Meinung nach die heutigen gesundheitspolitischen Herausforderungen?

Beatrix Frey-Eigenmann:Eine gute Gesundheitsversorgung hat einen hohen Stellenwert. Die hohe Lebenserwartung, der technische Fortschritt, die steigenden Ansprüche an die Verfügbarkeit medizinischer Leistungen, sowie diverse Fehlanreize haben in den letzten Jahren aber zu einer massiven Kostensteigerung im Gesundheitswesen geführt mit einem entsprechenden Anstieg der Krankenkassenprämien. Damit wir auch künftig für die ganze Bevölkerung eine qualitativ gute und bezahlbare Gesundheitsversorgung sicherstellen können, bräuchte es griffige Massnahmen auf allen Ebenen. Statt zu handeln, verliert sich die Politik jedoch in einem endlosen Hin- und Herschieben der Verantwortung und jeder hat seinen «Lieblingsschuldigen»: die Spitäler, die masslos investieren und nur auf Umsatzsteigerung aus sind, die Ärzte, die mit unnötigen Operationen ihre hohen Saläre aufbessern, die Krankenversicherer, die sich zu wenig für kostengünstige ambulante Behandlungen einsetzen, weil dies die Prämien- statt die Steuerzahler belastet, die Kantone, die mit Investitions- und Defizitbeiträgen Heimatschutz für ihre strukturschwachen Spitäler bieten und damit den Wettbewerb verzerren, die Patientinnen und Patienten, die im Krankheitsfall sofort das umfassende Leistungspaket vom Spezialisten wollen. Die Liste ist nicht abschliessend und zeigt vor allem eines: Es gibt keine einfachen Rezepte. Wir haben in der Schweiz eine ausgezeichnete Gesundheitsversorgung und bereits der Allgemeinversicherte hat sozusagen ein GA 1. Klasse. Das hat natürlich seinen Preis. Wenn wir uns diese Versorgungssicherheit und -qualität weiterhin leisten wollen, dann sollten wir die richtigen Anreize für eine Kostendämpfung setzen, statt die Verantwortung für die Finanzierung zwischen Prämien- und Steuerzahlenden hin- und herzuschieben.

Wichtig wäre eine einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen. Zudem sollten die Leistungserbringer Rahmenbedingungen erhalten und so abgegolten werden, dass ein gutes Preis-/Leistungsverhältnis gefördert und eine Überversorgung sanktioniert wird. Ausserdem sollte die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung gestärkt werden. Für Menschen, die ihrer Gesundheit Sorge tragen und sich um eine günstige Behandlung bemühen, sollte sich das bei ihrer Krankenkassenprämie und ihren Gesundheitskosten auszahlen.

Ärztinnen in Führungspositionen sind nach wie vor eine Seltenheit. Wie lässt sich dem Fortbestehende struktureller Ungleichheit von Männern und Frauen in der Branche, entgegenwirken?

Eine medizinische Karriere erfordert eine ausserordentlich lange Ausbildung mit sehr hohen Präsenzzeiten im klinischen Alltag. Das macht es für Ärztinnen noch herausfordernder, Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen als in anderen Branchen. Anders als ihre männlichen Mitbewerber haben Ärztinnen aus biologischen Gründen zudem weniger Möglichkeiten, ihre Familienplanung zeitlich nach hinten zu schieben. Trotzdem bin ich optimistisch, dass wir künftig mehr Ärztinnen in Führungspositionen haben werden. Denn erstens ist der Frauenanteil in der Medizin in den letzten Jahren deutlich gestiegen – man spricht von einer eigentlichen Feminisierung der Medizin. Zudem ist man heute in den Spitälern offener, was neue Beschäftigungs- und Führungsmodelle betrifft. Und auch der Regulator wird seine Anforderungen überprüfen müssen; es wäre ein Eigentor, wenn das grosse Potenzial der gut ausgebildeten Ärztinnen durch allzu starre Rahmenbedingungen (wie zum Beispiel jährlich zu erreichende Fallzahlen) nicht genutzt werden könnte.

Welche Frauen sollten unsere Leserinnen und Leser kennen?

Unsere vier Frauen in der Spitalleitung des Spital Männedorf. Sie machen nicht nur einen tollen Job, sondern sind der Beweis, dass es engagierte und qualifizierte Frauen an die Spitze schaffen:

Dr. med. Margaret Hüsler, Chefärztin Gynäkologie und Geburtshilfe. Sie führt ihre Klinik mit Kompetenz und Leidenschaft und ermöglicht den Frauen eine natürliche Geburt im sicheren Spitalumfeld. Sie hat eine der tiefsten Kaiserschnittraten.

Susanne Stierli, Leiterin Pflegedienst. Unter ihrer professionellen und umsichtigen Führung tragen fast 400 Pflegekräfte tagtäglich dazu bei, dass sich die Patientinnen und Patienten im Spital kompetent umsorgt fühlen.

Denise Haller, Leitung OP-Management und Spezialstationen. Dreh- und Angelpunkt im Spital ist ein gut funktionierendes OP-Management. Denise Haller sorgt dafür, dass die komplexen Ausrüstungen und Abläufe aufeinander abgestimmt sind, die Teams rechtzeitig einsatzbereit und alles zusammen möglichst reibungslos funktioniert.

Dr. Nicola Fielder, Leiterin Human Resource Management. Als Personalchefin setzt sich Nicola Fielder für zeitgemässe Arbeitsbedingungen ein, die es unseren Angestellten ermöglicht, Beruf und Familie in Einklang zu halten. Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag, dass gerade das weibliche Fachkräftepotenzial ausgeschöpft werden kann.

> www.frey-eigenmann.ch

> www.spitalmaennedorf.ch

Die Weltraumforscherin

Die Professorin und Astrophysikerin Dr. Kathrin Altwegg (*1951) von der Uni Bern war Leiterin des Teams, welches das Rosina-Massenspektrometer der Kometensonde Rosetta konstruierte.

Frau Dr. Altwegg, Sie haben 20 Jahre lang an der Rosetta-Mission der ESA gearbeitet. Wie kommt man zu so einem Projekt?

Kathrin Altwegg: Durch Zufall. Nach meinem Studium und einem Auslandaufenthalt suchte ich in der Schweiz eine Stelle als Physikerin. Zufällig bin ich so in der Weltraumforschung in Bern gelandet. Mein erstes Projekt war die Giotto-Mission zum Kometen Halley, wo ich vor allem für Software zuständig war. Als dann mein damaliger Chef, Prof. Hans Balsiger das ROSINA-Projekt von ESA zugesprochen erhielt, ernannte er mich zur Projektmanagerin. 2003 wurde er pensioniert und ich übernahm neben der technischen auch die wissenschaftliche Leitung.

Und danach?

Rosetta ist Ende September 2016 auf den Kometen sanft «gecrasht» und ich drei Monate später ebenfalls. Das heisst: Ich wurde pensioniert. Seither habe ich Zeit, mich wissenschaftlich zu betätigen, da die ganze Administration und die Lehre weggefallen sind. Das ROSINA-Experiment hat uns mit einer Fülle von Daten beschenkt, an denen ich mir noch lange die Zähne ausbeissen kann.

Haben Sie schon als Kind davon geträumt, den Weltraum erforschen?

Nein, ich wollte vieles werden als Kind: Tierärztin, Kapitänin, Archäologin …, nicht aber Weltraumforscherin.

Sie waren anno dazumal die einzige Frau an der Uni Basel, die Physik studierte. Wie war das für Sie?

Manchmal etwas einsam. Die «beste Freundin» fehlte. Die Kollegen waren insgesamt durchaus nett, aber die Beziehung ist dann doch eine andere. Es gab noch ein paar ältere Professoren, die etwas Mühe hatten mit Frauen in Physik. Der Ratschlag, man solle doch besser in der EPA Strümpfe verkaufen, haben auch Mathematikerinnen und Chemikerinnen zu hören bekommen. Das war dann komplett anders während der Doktorarbeit, die ich bei einer Frau – Professorin Iris Zschokke-Gränacher – machen konnte. Da spielte das Geschlecht keine Rolle mehr. Diese Frau wurde von ihren männlichen Doktoranden wie auch von mir vollständig respektiert.

Heute  sind Frauen nach wie vor untervertreten in naturwissenschaftlichen Berufen. Was meinen Sie, ist der Grund dafür? Und was könnte dagegen unternommen werden?

Das hat vor allem gesellschaftliche Gründe. Noch immer werden vor allem Physik, Ingenieurwissenschaften und Informatik mit dem Adjektiv «männlich» verknüpft. Es sei nicht weiblich, sich mit Maschinen und Computern zu beschäftigen. Noch immer erhalten Mädchen viel eher Puppen als Lego. Während Mädchen bis zur Pubertät offen gegenüber Naturwissenschaften und Technik sind, ändert sich das später radikal. In der Pubertät wirkt der Gruppendruck: Mädchen, die sich für Physik interessieren, sind in den Augen der Knaben nicht weiblich. Die beste Freundin nimmt als Schwerpunktfach «Philosophie / Pädagogik / Psychologie», etc. Und genau zu dieser Zeit muss man sich für das Schwerpunktfach entscheiden. Auch wenn es theoretisch möglich ist, das Studienfach an der Uni unabhängig vom Schwerpunktfach im Gymnasium zu wählen, sind die Kenntnisse in Mathematik und Physik bei Maturand_innen aus sogenannt «weichen» Fächern im Allgemeinen deutlich schlechter und daher die Erfolgschancen im einem naturwissenschaftlichen oder Ingenieur- Studium kleiner. Zudem fehlen noch häufig Vorbilder. Mädchen eifern ihren Müttern nach und die sind halt nicht Naturwissenschaftlerinnen oder Ingenieurinnen. Dies wird sich sicher langsam ändern, aber eben langsam.

Was sich auch noch zu wenig geändert hat, ist die Zuständigkeit bei der Betreuung der Kinder. Was raten Sie jungen Frauen, die Familie und Beruf unter einen Hut bringen wollen?

Werden Sie ein Organisationstalent! Das ist das A und O für Frauen mit Kindern in der Berufswelt. Binden Sie den Partner in der Betreuung der Jungmannschaft ein, auch Männer können Kinder betreuen. Wir Frauen müssen das aber entsprechend anerkennen. Nehmen Sie Hilfe in Anspruch (Grossmütter, Nachbarn, etc.). Versuchen Sie nicht, perfekt zu sein und lassen Sie den Fünfer auch mal gerade sein. Der Haushalt muss nicht perfekt sein. Ob Sie Familie und Beruf unter einen Hut bringen können, hängt nicht in erster Linie vom Beruf ab, sondern vom Chef oder der Chefin!

> Centre for Space and Habitability (Uni Bern)

Dirigentin

Lena-Lisa Wüstendörfer (*1983), Dirigentin und Musikwissenschaftlerin, wusste schon als Kind, dass sich ihr Leben um Musik drehen sollte. Heute ist sie international als Dirigentin gefragt.

Frau Wüstendörfer, Dirigent_innen geben an einem Konzert den Takt an, was gehört ausserdem zu Ihren Aufgaben?

Lena-Lisa Wüstendörfer: Als Dirigentin drücke ich mich mit Gesten aus, die von Orchester, Chor und Solisten ohne Worte verstanden werden. Durch meine Gestik lenke ich das Tempo, die Dynamik oder den Klang. Neben der Koordination des Orchesters bin ich als Dirigentin vor allem für die Interpretation der Musik zuständig: Ich erwecke gemeinsam mit dem Orchester das Stück zum Leben, das der Komponist in seiner Partitur festgeschrieben hat. In einer Partitur sind aber nie alle Parameter absolut definiert. Diesen Spielraum gestalte ich aus – etwa so, wie die Regisseurin in einem Theaterstück diejenigen Aspekte definiert, die der Autor nicht eindeutig vorgegeben hat. Ich habe aber auch noch Aufgaben ausserhalb der Proben und Konzerte. Diese sind je nach Projektphase verschieden: Neben der eigenen Vorbereitung auf ein Stück, die in der Analyse und Verinnerlichung der Partitur besteht, gehört etwa auch das Erstellen von Probenplänen zu meinen Aufgaben. Ich plane was wann genau geprobt wird, um so den Probenprozess möglichst effizient zu gestalten. Hinzu kommen Reisen zu verschiedenen Gastauftritten oder Gespräche mit Solistinnen und Konzertveranstaltern.

Was fasziniert Sie an Ihrem Beruf am meisten?

Musik ist meine Leidenschaft und ich liebe das gemeinsame Musizieren mit einem Orchester. Wenn es einem gelingt, die volle Konzentration des Orchesters in einem musikalischen Gedanken zu vereinen, so dass alle dieses Stück gemeinsam erleben, dann können im Konzert sehr berührende Momente entstehen. Am eindrücklichsten ist es, wenn das Publikum ebenso voll in die Emotion des Stücks eintaucht und alle im Konzertsaal in die Musik vertieft sind.

Was war bisher Ihr berufliches Highlight? Und was möchten Sie noch erreichen?

Highlights sind für mich Momente im Konzert, in denen alle Zahnräder im Orchester ganz natürlich ineinandergreifen und ich merke, dass der Funke zum Publikum springt. Das sind dann so Sternstunden: Man kann sie nicht forcieren, aber wenn sie da sind, verbindet die Musik alle im Saal. Ein gemeinsames Gefühl entsteht.
Auf meiner Bucket List stehen noch einige Werke, die ich unbedingt einmal aufführen möchte. Dazu gehört zum Beispiel Beethovens «Fidelio» – eine meiner Lieblingsopern. Und ich möchte Mahlers 8. Sinfonie dirigieren: Ein verrücktes Werk. Es braucht dazu Unmengen von Menschen. Die Sinfonie trägt darum auch den Übertitel: die Sinfonie der Tausend. Neben einem grossbesetzten Orchester singen ein riesiger Chor, ein Kinderchor und mehrere Solisten. Gustav Mahler hat die sinfonische Form damit wirklich an ihre Grenzen getrieben.

Fotos:  Yves Bachmann

> www.wuestendoerfer.com

Blind am Berg

Dr. Barbara Müller (*1963), Kantonsrätin und Geologin, ist stark sehbehindert. Die Wissenschaftlerin ist oft im Himalaya und in Nepal unterwegs – inklusive Expeditionen und Klettertouren.


Barbara Müller arbeitet mit einer Sprachausgabe des Notebooks.
Sehen kann sie den Bildschirminhalt kaum mehr.

Frau Müller, Sie reisen regelmässig in den Himalaya, was machen Sie dort?

Ich bin beruflich oft im Himalaya in Nepal unterwegs. Im Flachland von Nepal (gegen die indische Grenze hin) wird leider Arsen, ein bekanntlich hochgiftiges chemisches Element, im Grundwasser aufgefunden. Dieses Grundwasser wird hochgepumpt und als Trinkwasser verwendet. Nach jahrelanger Exposition erkranken Menschen daran, bis sie an Krebs sterben. Meine Aufgabe ist es einerseits, die bestehenden Filter zu verbessern und andererseits, herauszufinden, woher das Arsen stammt.
Die Effizienz der heutigen Filter ist inakzeptabel. In diesen Filtern wird das Arsen auf der Oberfläche von rostigen Nägeln gebunden – bis dato nur in ungenügender Weise.
Das Arsen ist geologischen Ursprung und deshalb ist es unerlässlich herauszufinden, woher es originalerweise stammt und wie es aus den Sedimenten (dem Boden) herausgelöst wird. Dies ist eine typische Aufgabe für mich als Geologin. Nämlich, das System als Gesamtes zu verstehen.
Sind wir dann soweit, können wir die Filter aufgrund der neuen Erkenntnisse anpassen.

Sprechen Sie Nepali?

Ja, ich spreche die Amtssprache Nepals, sonst wäre meine Arbeit kaum möglich. Meine Nepali Assistenten sprechen zwar in der Regel Englisch, die Vertreter der betroffenen Bevölkerung jedoch kaum. Die Kenntnisse der Sprache erleichtert mir die Arbeit ungemein.

Wie ist der Umgang der dortigen Menschen mit Ihrer Sehbehinderung?

Meine Nepali Freunde und Assistenten kennen mich nicht anders, sie haben mich nicht erlebt, als ich noch ein besseres Sehvermögen hatte. Die Menschen in Nepal sind materiell nicht dermassen üppig bedacht, wie wir es in der Schweiz kennen. Auch infrastrukturmässig – zum Beispiel bei den Verkehrswegen oder im Gesundheitswesen – ist kein westlicher Standard vorhanden. Nepali sind daher ausserordentlich befliessen darin, im Hier und Jetzt zu leben, sich mit Situationen zu arrangieren, wie sie sich eben präsentieren. Darüberhinaus wissen sie sich improvisationsmässig stets zu helfen. Meine Sehbehinderung ist für sie Alltag, gehört zu mir, ist nicht zu ändern und man kann sich damit arrangieren und sich überlegen, wie die Arbeit trotzdem ausgeführt werden kann oder wie man mich im Hochgebirge auf Expeditionen unterstützen soll. In Nepal akzeptiert man Menschen grundsätzlich, wie sie eben sind und wertet nicht. Man darf in diesem Zusammenhang jedoch nicht vergessen, dass ich Gast bin im Lande und ich deshalb unter Umständen von gewissen Privilegien profitieren kann.

Und in der Schweiz?

Da ist es leider anders – nur schon wegen der «Scheininvaliden»-Debatte, die vor über einem Jahrzehnt losgetreten wurde. Hier konzentriert man sich generell auf Defizite. Das heisst: Man ist defizit- und nicht ressourcenorientiert. Daher existierten beispielsweise angeblich typische Blindenberufe. Ob sie für Betroffene persönlich geeignet wären, ist Nebensache. Vorurteile sind leider weit verbreitet; Konflikte, die sich aus dieser Haltung ergeben, sind vorprogrammiert. So wird mir und anderen oft unterstellt, dass eine körperliche oder sinnesorganmässige Einschränkung quasi automatisch eine kognitive Beeinträchtigung nach sich ziehe. Zu solchem Unsinn werde ich mich nicht weiter äussern. Sehr schnell werden in der Schweiz auch Wertungen ausgesprochen, beziehungsweise Menschen aufgrund von auffälligen Eigenschaften stigmatisiert. Der Mensch als Ganzes wird kaum wahrgenommen. Wohl fehlt es den Menschen in der Schweiz im generellen (materiell) an nichts, trotzdem wälzt man Probleme, wie es denn in der Zukunft bestellt sein könnte.
Grundsätzlich ist es in der Schweiz einfacher als in Nepal, technische Hilfsmittel zu organisieren. Assistenten werden von der Sozialversicherung bezahlt, aber in der Regel nur nach einem riesigen Aufwand und oft nur nach Gerichtsgängen.

> Mehr Infos: www.barbara-himalaya.ch

Die Gärtnerin

Hélène Lindgens, früher Headhunterin, lebt nun vorwiegend auf Mallorca, wo sie Gärten gestaltet.

Frau Lindgens, Sie liebten Ihren Job als Stellenvermittlerin, wie kam es, dass Sie trotzdem auswanderten und den Beruf wechselten?

Hélène Lindgens: Es war reiner Zufall. Mein Mann kaufte eine Ruine auf Mallorca, die er wieder aufbauen wollte – geplant war ein übersichtliches Ferienhaus. Zur Ruine gehörte ein Garten oder besser gesagt, es waren 15’000 Quadratmeter verwildertes Land, die in einen Garten umgewandelt werden mussten. Ich hatte damals keine Ahnung von Gärten und noch weniger von Pflanzen, die im Mittelmeerraum wuchsen. Doch ich bildete mich weiter, freundete mich mit dem harten, trockenen Boden an und schlussendlich wuchs dann doch noch etwas.

Ihr wunderschöner Garten machte Furore. Doch wie fanden Sie als – damals noch – unerfahrene Gärtnerin Ihre Aufträge?

Zuerst kamen Anfragen von Freunden und Bekannten. Dann wurden es immer mehr. – Und es ist kein Ende in Sicht.

Ihr eigener Garten ist inzwischen so etwas wie ein Skulpturen-Park, in dem jedes Jahr Künstler_innen ihre Werke ausstellen. Wie lange dauert die Ausstellung jeweils?

Die Ausstellung ist nur für einen einzigen Tag öffentlich: Am zweiten Samstag im Mai. Dann, wenn alle weissen Rosen blühen. Ansonsten müssen sich die Gartenbesucher_innen anmelden. Wenn es zeitlich möglich ist, öffnen wir gerne das Gartentor. Am Tag der offenen Tür «Flores y Arte» kommen bis zu 500 Leute.
Ich bin der Meinung, dass Gärten allen Menschen gehören und nicht nur den Besitzern. Etwas so wunderbares darf man nicht für sich behalten, sondern man muss es teilen.
Gärten machen Menschen glücklich.

Haben Sie während dieser Zeit noch Privatsphäre?

Wie buchstabiert sich Privatsphäre?

Die Gestaltung Ihres eigenen Gartens war auch der Start Ihrer Arbeit als Gartendesignerin. Inzwischen hat das Unternehmen Son Muda Gardens 36 Mitarbeitende. Sie betreuen Gärten auf der ganzen Insel.

Ja. Das Leben ist das was einem passiert, während man versucht es zu planen. Dieses grossartige Abenteuer Son Muda Gardens habe ich niemals gesucht oder erträumt. Es hat mich gefunden.
Ausserdem: Alle unsere Mitarbeitenden hatten zuvor keinen Job und keiner von ihnen war zuvor Gärtner.

Noch eine Frage zum Schluss: Welche sind Ihre Lieblingspflanzen?

Für mein kleines Herz die weissen Rosen. Für mich und die Welt die Olive: Ihre Kraft, ihre Ausdauer und ihre Präsenz verbunden mit der Erinnerung, dass wir nur für den Zeitraum eines Wimpernschlags auf dieser Welt sind.

www.sonmuda.com