2018

Gerichtshof für Menschenrechte

Dr. Helen Keller (*1964) ist Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.

Frau Keller, wie wird man Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?

Dr. Helen Keller: Ich habe mich rund zehn Jahre mit völker- und menschenrechtlichen Fragen auseinandergesetzt. Mein Fokus in der Forschung war die Schnittstelle zwischen internationalem und nationalem Recht. Mich interessierte die Frage: Wie funktionieren internationale Gerichte und wie reagieren die nationalen Instanzen auf die internationalen Entscheide? Das war eine gute Voraussetzung, um Richterin zu werden. Richterin am Europäischen Gerichtshof wird man allerdings nicht aufgrund einer bestimmten Karriere, sondern durch viel harte Arbeit und Engagement. Schliesslich muss frau im richtigen Moment an der richtigen Stelle sein und den Mut haben, die Gelegenheit beim Schopf zu packen.
Neben der Ausbildung und dem Werdegang ist es auch wichtig, dass man einen tadellosen Leumund hat. Man muss sich den Ruf verschaffen, unabhängig und kompetent zu sein. Man muss stark genug sein, um den Druck auszuhalten, der unweigerlich von verschiedenen Seiten ausgeübt wird. Eine Richterin muss in jedem einzelnen Fall unabhängig und unparteiisch – nur den Menschenrechten verpflichtet – entscheiden. Das ist eine grosse Verantwortung.

Was sollten junge Frauen beachten, die sich für dieses Amt interessieren?

Das Handwerk muss gelernt sein. Menschenrechte sind ein weites Forschungsfeld. Ich empfehle den jungen Frauen, sich breit zu bilden. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts in diesem Gebiet gehört zur Pflichtlektüre.
Als Juristin muss man sprachlich sattelfest sein. Wenn man international tätig sein will, gehören neben der Beherrschung der Muttersprache auch sehr gute Fremdsprachenkenntnisse dazu. Englisch allein reicht nicht, auch Französisch ist eine wichtige Arbeitssprache am EGMR. Das sollte nicht unterschätzt werden.
Bei der Bewältigung der vielen Arbeit ist es unabdingbar, dass man sich gut organisieren kann. Arbeitstechnik ist das A und O. Dazu gehört auch ein fairer Umgang mit den Mitarbeitern und Kollegen. Beratungen in einem Verhandlungssaal mit 16 anderen Richterinnen und Richter sind anspruchsvoll. Die Fälle schwierig, manchmal dramatisch. Deshalb darf man bei seinen Voten weder zu emotional noch verletzend sein. Eine gute Richterin spielt immer auf den Ball, nie auf den Richterkollegen und ist immer sachlich. Gegenüber den Kollegen und Kolleginnen ist ein absolut korrekter Umgangston unabdingbar, sonst verschlechtert sich die Atmosphäre im zwischenmenschlichen Bereich so sehr, dass sich das auch auf das Verhandlungsergebnis auswirken kann.
Schliesslich glaube ich, dass ich es ohne meine Familie und meine Freundinnen nicht geschafft hätte. Auf sie konnte ich immer zählen, sie haben mich in jeder Hinsicht immer unterstützt. Dieser emotionale Rückhalt hat mir die nötige Kraft gegeben. Deshalb war und ist es mir wichtig, dass ich dieses soziale Umfeld pflegen kann.

Foto: Markus Senn, SonntagsBlick

> Prof. Dr. iur. Helen Keller, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht, Universität Zürich
> Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA
> Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (fr/en)