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Eine Frage der Gerechtigkeit

Cécile Bühlmann, frühere Nationalrätin, engagiert sich seit Jahrzehnten für Frauenrechte.

Frau Bühlmann, was hat der Feminismus in der Schweiz bis jetzt erreicht? – Was noch nicht?  

Cécile Bühlmann:Die rechtliche Gleichstellung haben wir feministischen Politikerinnen in den letzten 3 Jahrzehnten erkämpft. Mit der Umsetzung hapert es aber immer noch. Wir sind noch weit weg von der Lohngleichheit, Frauen leisten immer noch die grosse Mehrheit der unbezahlten Carearbeit und Gewalt gegen Frauen ist leider immer noch weit verbreitet.  

Sie setzen sich seit vielen Jahren für Frauenrechte ein. Was war und ist Ihre Motivation für diese Arbeit?

Es ist eine Frage der Gerechtigkeit: Wieso sollen die eine Hälfte der Menschheit nur aufgrund des Geschlechts so viel weniger Einfluss, Einkommen und Vermögen haben als die andere? 

Gibt es ein Thema, das Sie insbesondere beschäftigt hat?

Der Zugang der Frauen zur Politik und zur Arbeitswelt: da fallen die entscheidenden Würfel, die das Leben aller Menschen beeinflussen und da haben die Frauen bis heute weniger zu sagen als die Männer.  

Wie hat der Feminismus Ihr ganz persönliches Leben geprägt?

Die feministische Frauenbewegung ist die nachhaltigste soziale Bewegung in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts und für mich war sie eine richtige persönliche Befreiungsgeschichte: Ich habe die alten, mir anerzogenen Rollenbilder über Bord geworfen und mein Leben nach meinen eigenen Vorstellungen zu leben begonnen!   

Politisieren Frauen anders als Männer?

Alle Untersuchungen zeigen, dass Frauen tendenziell sozialer, ökologischer und weniger fremdenfeindlich politisieren, schon deshalb braucht es mehr Frauen in der Politik.    

Wann wird die Gleichstellung erreicht sein?

Das werde ich wohl leider nicht mehr erleben, das Patriarchat ist langlebiger und resistenter als ich früher dachte.  

Welche Frauen sollten unsere Leser_innen kennen?

Alle starken, unabhängigen Frauen dieser Welt! Danke Internet wissen wir heute mehr voneinander und können uns vernetzen, das gibt Power!

www.cecile-buehlmann.ch

Frauen in Führungspositionen

Dr. Michèle Etienne vermittelt Frauen in Aufsichtsratsgremien.

Frau Etienne, seit über 10 Jahren setzen Sie sich für mehr Frauen in Führungspositionen ein. Was hat sich in dieser Zeit geändert? Was ist unverändert geblieben?

Michèle Etienne: Verändert hat sich ganz klar die öffentliche Aufmerksamkeit und Sensibilität, welche dem Thema Frauen in Führungsfunktionen zu Teil wird. Während heute im öffentlichen Diskurs die Meinung vorherrscht, dass Diversität in Führungsgremien sinnvoll ist, wurden männerdominierte Gremien lange wenig hinterfragt. Im Laufe der Jahre erhöhte sich der Druck und konkrete Forderungen wurden gestellt, wie die Einführung einer Frauenquote. Auch wenn der Frauenanteil in den höchsten Führungsgremien in den letzten Jahren gestiegen ist, kann allerdings noch längst nicht von einer ausgewogenen Vertretung gesprochen werden. Gemessen an der Aufmerksamkeit, welche dem Thema entgegengebracht wird, hat sich zahlenmässig noch zu wenig verändert. 

Welche Gründe gibt es, um Diversität in Verwaltungsräte zu fördern?

Frauen bringen andere Erfahrungshintergründe, Sichtweisen und Führungsstile in ein Gremium ein, und sie wägen Risiken vorsichtiger ab. Dies führt nicht nur zu einer besseren Diskussionskultur und ausgewogeneren Entscheiden, sondern erhöht erwiesenermassen auch die Profitabilität: Zahlreiche Studien untersuchen und belegen diese Korrelation. So sind zum Beispiel laut einer McKinsey-Studie SMI-Unternehmen mit mindestens drei Frauen im Management deutlich profitabler. Die Eigenkapitalrendite und die Gewinnmarge sind in diesen Unternehmen signifikant höher als der Branchendurchschnitt. Frauen sind ein wesentlicher Erfolgsfaktor von Unternehmen; genau so gilt es aber auch auf eine gute Durchmischung betreffend andere Diversitätsdimensionen wie Alter, Herkunft oder Fachkenntnisse zu achten. 

Was denken Sie, weshalb halten sich althergebrachte Strukturen so hartnäckig?

Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Das Gesellschaftsbild, in welchem Frauen primär für die Familie sorgen und keine berufliche Karriere verfolgen, ist in unserer Gesellschaft über Generationen gewachsen und noch immer verankert. Es wäre utopisch zu glauben, dass sich etwas derart Etabliertes in verhältnismässig kurzer Zeit radikal verändert. Die mediale Aufmerksamkeit, welche der Diversität in Führungsgremien entgegengebracht wird, kann für die effektive Anpassung der Strukturen paradoxerweise vielleicht sogar hinderlich sein. Durch den Diskurs entsteht der Eindruck, dass viel geschieht – doch wie eingangs angetönt sind die zahlenmässigen Veränderungen in den Gremien zwar vorhanden, jedoch auf tiefem Niveau. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass an der Spitze der Wettbewerb zunimmt und mit zunehmender Hierarchiestufe auch weniger Positionen zur Besetzung zur Verfügung stehen. Mit der Wahl einer Frau geht ein Platz für einen Mann verloren – und freiwillig wird kaum einer seine Position zur Verfügung stellen. Dieses wettbewerbsorientierte Verhalten, letztlich auch das Kämpfen um den Platz und die Anerkennung fällt nicht allen Frauen gleichermassen einfach. Das ist einer der weiteren Gründe, warum Frauen in Evaluationsprozessen eine Bewerbung nicht in Erwägung ziehen oder anders angesprochen und letztlich auch überzeugt werden müssen.

Was braucht es, damit Frauen in Aufsichtsgremien nicht mehr zur Ausnahme gehören?

Auch wenn wir Frauen das nicht gerne hören, braucht die Anpassung der Strukturen wie oben erwähnt Geduld. Gleichzeitig sind aber nicht nur die traditionellen Rollenbilder Grund für die Untervertretung, sondern auch die fehlende Visibilität der Frauen. Jedem Entscheidungsträger kommen bei einer Vakanz zahlreiche männliche Kandidaten in den Sinn; hingegen ist nur eine Handvoll weiblicher Kandidatinnen einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Wenn diese dann bei einer Anfrage keine Valenzen mehr haben, kann der Eindruck entstehen, dass Frauen kein Interesse an Führungspositionen haben. Hier setzt die Eigenverantwortung aller Frauen an, indem sie aktiv ihre Karriereziele gegenüber Entscheidungsträgern und Multiplikatoren kommunizieren und sich selber visibel machen. Nicht zuletzt bin ich der Meinung, dass Frauen sich gegenseitig noch mehr unterstützen können. Leider erlebe ich es auch, dass Frauen, welche es bis an die Spitze geschafft haben, in erster Linie für sich schauen. 

Hätten Sie einen Zauberstab, was würden Sie sich wünschen?

Mein Wunsch wäre es, mit dem Zauberstab einen Zustand hervorzurufen, in welchem keine Diskussion rund um Geschlechterdiversität und Frauenquoten mehr geführt werden muss. Dies ist der Fall, wenn eine kritische Masse von Frauen in Führungspositionen erreicht ist und das Geschlecht als primäres Unterscheidungsmerkmal in den Hintergrund rückt. In einer Gruppe sind es dann Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmalen, welche sich für eine Position gut oder weniger gut eignen und ins Team passen. Aber auch ohne Zauberstab können wir schon heute dafür sorgen, dass eine genügend hohe Zahl an Frauenkandidaturen in Bewerbungsprozessen vorhanden ist. Damit reduziert sich der sog. «unconscious bias», welcher dazu führt, dass Frauen mit anderen Massstäben evaluiert werden als Männer. Ein konkreter Schritt, der sich ohne jegliche Magie realisieren lässt.

Welche Frauen sollten unsere Leser_innen kennen?

Zwei inspirierende Frauen sind für mich persönlich Nathaly Bachmann und Heike Scholten.

www.innopool.ch

Elsa Felicya Gasser

(1896 – 1967) war eine schweizerische Ökonomin, Wirtschaftsjournalistin und Managerin.
Ab 1932 arbeitete Gasser für die Migros als rechte Hand Gottlieb Duttweilers, zuerst als Beraterin, dann als Mitglied der Verwaltung. Sie propagierte das System der Selbstbedienung in den Migrosgeschäften. Auf ihre Initiative hin übernahm die Migros 1950 die Buchgemeinschaft Ex Libris.
Gasser sass in der Leitung der Stiftung Im Grüene und der Gottlieb-und-Adele-Duttweiler-Stiftung. Sie verfasste zahlreiche Broschüren und Beiträge für Zeitschriften und Zeitungen zu den Themen Konjunktur, Preisentwicklung, Detailhandel und industrielle Beziehungen.

Wikipedia

Historisches Lexikon der Schweiz

Handeln ist angesagt

Kathrin Amacker ist zurzeit die einzige Frau in der SBB-Konzernleitung. Zuvor war sie, als erste Frau überhaupt, in gleicher Funktion bei der Swisscom tätig. Seit vielen Jahren setzt sie sich ein für Gleichstellung in den Führungsetagen. 

Frau Amacker, in der Schweiz sind Frauen in Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten nach wie vor dünn gesät. Was denken Sie, woran könnte das liegen?

Kathrin Amacker:Das ist wohl ein Zusammenspiel verschiedenster Faktoren, die tief in unserer Sozialisierung verwurzelt sind. Der Spielraum von Frauen in der gesellschaftlichen Positionierung ist grundsätzlich kleiner als derjenige von Männern. Selber habe ich das zum Beispiel so erlebt, dass ich mich sowohl für meine drei Kinder als auch für mein 100-Prozent-Arbeitspensum rechtfertigen musste, während mein Mann für seine Pensumsreduktion gelobt wurde. Im Fachjargon spricht man vom «Double Bind»-Dilemma oder von der Zwickmühle der Frauen. Egal, was man tut, es stellt sich immer die Frage: Mache ich es richtig oder falsch?

Wie könnte der Frauenanteil erhöht werden? 

Ich bin kein Fan unendlicher Optimierungsversuche bei äusseren Rahmenbedingungen.

Die bei weitem wichtigste Massnahme ist, Frauen konsequent für Führungspositionen zu nominieren. Dabei darf man durchaus mutig vorgehen: Frauen müssen nicht immer überdurchschnittlich erfolgreich sein nach einer Beförderung, genauso wie Männer das auch nicht sind.

Ich bin zudem dafür, dass die Erhöhung des Frauenanteils in der Wirtschaft verbindlich geregelt wird, wobei die Unternehmen dies selbst tun sollen. Es wäre schade, wenn die Politik da verbindlich eingreifen müsste. Für mich ist klar: Langfristiger Erfolg wird nur durch eine breite Akzeptanz im Unternehmen und eine entsprechende Unternehmenskultur erreicht.

In der SBB-Konzernleitung sind Sie die einzige Frau. Sollte die SBB, als Bundesunternehmen, das Thema Gleichstellung nicht ernster nehmen?

Die SBB nimmt das Thema ernst und engagiert sich im Bereich der Frauenförderung. Bereits 1993 trat das Reglement über die Gleichstellung von Mann und Frau in Kraft, dieses ist seit 2001 auch im Gesamtarbeitsvertrag festgehalten. Die SBB bietet für Frauen spezielle Führungsausbildungen, Mentoring Programme und Netzwerke an. Bei den strategischen Nachfolgeplanungen wird ein besonderes Augenmerk auf die Laufbahnentwicklung von Frauen gelegt.

Die SBB hat sich zum Ziel gesetzt, den Frauenanteil in Führungspositionen bis 2020 deutlich zu steigern und demjenigen in der übrigen Belegschaft anzugleichen. Eine wichtige Entwicklung gibt es im SBB Verwaltungsrat: Vor wenigen Jahren gab es in diesem Gremium eine einzige Frau, heute sind es drei. Das entspricht 33 Prozent.

Nach wie vor verdienen Männer in einigen Berufen mehr als Frauen. Wie kommt es, Ihrer Meinung nach, dass sich solche Strukturen so hartnäckig halten?

Die Statistiken zeigen klar auf, dass beim Vergleich der Löhne von Frauen und Männern unter Berücksichtigung von Ausbildung, Hierarchiestufe, Alter und Erfahrung eine unerklärliche Differenz von 8 – 10 Prozent zu Ungunsten der Frauen verbleibt. Das nennt man Diskriminierung. Seit Einführung des Gleichstellungsgesetzes im Jahr 1996 ist in der Schweiz eine solche Diskriminierung nicht mehr tolerierbar. Statt sich in Diskussionen über Messmethodiken zu verlieren, ist Handeln angesagt. Nach über 20 Jahren gesetzlicher Verpflichtung müsste der Beweis für eine glaubwürdige Selbstregulierung jetzt angetreten sein.

Hätten Sie einen Zauberstab, was würden Sie sich wünschen?

Dass in allen Führungsgremien von Politik, Behörden, Verbänden und Wirtschaft mindestens 30 % Frauen sind. Ganz ohne Quote und mit gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit.

Bild: Christine Strub

Kathrin Amacker, SBB-Konzernleitung 

Kathrin Amacker, Wikipedia

Eine zentrale Rolle

Prof. Dr. Regina Wecker (*1944), emeritierte Professorin für Frauen- und Geschlechtergeschichte war eine Pionierin in Sachen Geschlechterforschung in der Schweiz. 1998 erhielt sie den Wissenschaftspreis der Stadt Basel. 2015 den Chancengleichheitspreis beider Basel.

Frau Wecker, Sie sind Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Frauen- und Geschlechterforschung. Was sind die Schwerpunkte dieser Gesellschaft?

Prof. Dr. Regina Wecker: Nein, das bin ich nicht. Die Gesellschaft heisst heute «Schweizerische Gesellschaft für Geschlechterforschung (SGFGF)». Präsidentin ist seit diesem Jahr, Janine Dahinden (Uni Neuenburg), vorher war Andrea Maihofer (Uni Basel) fast 10 Jahre Präsidentin. Ich war Gründungsmitglied (gegr. 1997) und langjährige Präsidentin der Vorgängergesellschaft «Schweizer Gesellschaft für Frauen- und Geschlechterforschung».

Als Ziele wurden an der letzten Sitzung die Dauerbrenner-Themen erneut formuliert: 1. die Institutionalisierung der Gender Studies an Universitäten, in der Forschung und in der angewandten Wissenschaft, 2. Vernetzung aller Kräfte, die in diesem Bereich tätig sind 3. Sichtbarmachung der Gender Studies in der Öffentlichkeit. 

Welche Rolle spielten frühere Frauen im Wirtschaftsleben?

Wenn unter Wirtschaftsleben die Vielfalt der wirtschaftlichen Tätigkeiten zu verstehen ist, dann spielten Frauen eine zentrale Rolle, in der Hauswirtschaft, in der Landwirtschaft, aber auch im Finanzwesen als Geldgeberinnen. Ohne sie funktionierte die Wirtschaft nicht. Nur waren ihre Positionen – so wichtig sie waren – meist nicht mit Entscheidungskompetenzen verbunden.

Und heute? Was hat der Feminismus in der Schweiz bis jetzt erreicht? – Was noch nicht? 

Erreicht wurde die formalrechtliche, gesetzliche Gleichstellung von Frauen und zumindest die intensive Diskussion über alles das, was noch fehlt, nämlich die tatsächliche Gleichstellung in Familie, Beruf und Lohn. 

Ist Erwerbstätigkeit auch ein Machtfaktor?

In der Erwerbswelt werden die Weichen für die gesellschaftliche Entwicklung gestellt. Oft sind die multinationalen Firmen mächtiger als die nationalen Politiken. Die Teilhabe an diesen Entscheidungen ist ein zentraler Machtfaktor. 

Welche Feminismus-hemmende Faktoren gibt es? 

Macht, Angst vor Machtverlust, Traditionen, Angst vor Veränderung, Faulheit

Nach wie vor arbeiten viele Frauen ehrenamtlich und stehen nach einer Scheidung oder im Alter mittellos da, wie könnte das geändert werden?

Ehrenamtlich? Ich sehe eher, dass sie familiäre Erziehungs- und Betreuungsarbeiten – von Kindern bis zur Elterngeneration – sowie Haus- und Unterstützungsarbeiten übernehmen. Erwerbstätigkeit ist mit diesen Arbeiten immer noch schlecht zu verbinden. Aber das Ergebnis ist tatsächlich, dass sie schlecht abgesichert sind. 

Die Änderungsvorschläge sind so alt wie das Problem: bessere und flexiblere Teilzeitarbeitsmodelle für Männer und Frauen und die Bereitschaft von Männern Teilzeit zu arbeiten und die häusliche Arbeit zu übernehmen. Bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten. 

Welche Frauen/Pionierinnen sollten unsere Leser_innen kennen?

Regina Kägi-Fuchsmann (Schweizer Flüchtlingshelferin im 2. Weltkrieg), Louise Schröder (Bürgermeisterin in Berlin 1947), Alice Kessler-Harris (amerikanische Historikerin im Bereich Frauenlohnarbeit)

Prof. Dr. Regina Wecker, Uni Basel

Sich Gehör verschaffen und sich sichtbar machen

Dr. Esther Girsberger ist Autorin, Moderatorin, Kolumnistin. Sie ermuntert Frauen, sich vermehrt in der Öffentlichkeit zu Wort zu melden.

Frau Girsberger, Sie sind Autorin des Buchs «Abgewählt – Frauen an der Macht leben gefährlich» (2004). Ist das immer noch so?

Esther Girsberger:2004 hat die Statistik gezeigt, dass drei Mal mehr Frauen als Männer abgewählt worden sind. Ich habe die Statistik nicht nachgeführt, aber ganz sicher wäre das Verhältnis nicht mehr so krass. Wobei das wahrscheinlich eher damit zu tun hat, dass man generell kritischer geworden ist gegenüber Exekutivmitgliedern. Nicht zuletzt wegen der zunehmenden Personalisierung gegenüber Personen des öffentlichen Lebens.

Seit mehr als 25 Jahren stehen Sie in der Öffentlichkeit. Was hat sich in dieser Zeit für Frauen geändert?

Es gibt immer noch viel zu wenig Frauen an der Spitze von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Aber immerhin mehr als beispielsweise noch vor 20 Jahren, als ich Tagi-Chefredaktorin war. Damals war ich weit und breit die einzige Frau an der Spitze eines Publikumsmediums. Was dazu führte, dass die wenigen Frauen, die es gab, unter Dauerbeobachtung standen: wie kleidet sie sich, wo hält sie sich auf, was isst und trinkt sie, mit wem zeigt sie sich etc. Mittlerweile werden auch Männer auf Attribute reduziert. Aber immer noch weniger oft als die Frauen. 

Oft hört man von Männern, dass sie für die Frauen mitdenken – und sie deshalb auch ganz unter sich bleiben können. Ist «für Frauen mitdenken» genug?

Das ist Quatsch. Frauen konnten schon immer denken. Bevor sie das Frauenstimmrecht erhielten und bevor sie mindestens so gut ausgebildet waren wie Männer. Wobei ich nichts dagegen habe, wenn Männer ab und zu unter sich bleiben. Das tun wir Frauen ja auch. Denkend.

Welche Frauen aus dem bürgerlichen Lager setzen sich für Frauenanliegen ein? 

Eine ganze Reihe. Glücklicherweise ist es ja längst nicht mehr so, dass der Einsatz für Frauenanliegen rein ideologisch geprägt und damit den sog. Linken vorbehalten ist. Ohne den Einsatz bürgerlicher Frauen auf nationaler Ebene wäre beispielsweise die Aktienrechtsrevision, die Richtwerte für Geschlechter auf Kaderstufe vorschreibt, niemals durchgekommen.

> Webseite von Esther Girsberger: www.esther-girsberger.ch

Rollenerweiterungen von Frauen und Männern

Regina Probst, BS Psychologie, Lehrerin und Genderfachfrau, Bern 

Frau Probst, Sie bezeichnen sich nicht mehr als Feministin, obwohl Sie nach wie vor für die Gleichstellung der Geschlechter sind. Ist das Wort «Feminismus» zu ungenau? Gibt es diverse Feminismen? 

Regina Probst:Frei nach Rilke würde ich es so sehen: «Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen …». 

Das heisst, feministische Anliegen sind in meiner aktuellen Vorstellung immer noch unabdingbarer Teil der erforderlichen Entwicklungen. Es kann gar nicht anders sein, wenn die Postulate der Gleichheit der Menschen und die Menschenrechte gelten sollen. In vielen Ländern bedeutet es sogar immer noch primär, den Frauen Rechte zu geben, Diskriminierungen zu verbieten. Das muss aber stets in Bezug auf das konkrete Anliegen gesehen werden. 

Schauen wir aber auf Länder wie unsere westlichen Demokratien, sind wir doch schon sehr weit, was Rechte und Freiheiten anbelangt und weiter kommen wir nun eigentlich nur noch, wenn nun die «Verschiebungen» im Fokus sind, die beide Geschlechter betreffen: Elternzeit, Führungspositionen teilen, etc. Es sind also nicht mehr vor allem gleiche Freiheiten und Rechte wie Männer im Blick, sondern Rollenerweiterungen von Frauen und Männern. Gleichstellung eben. Der Begriff «Feminismus» untergräbt nun den Prozess fast eher. Nicht für jene, die wissen, wofür er steht, sondern für jene, die das Gleichstellungsanliegen offen annehmen, vor allem junge Menschen, denen aber das ausschliesslich weibliche im Wort nicht passend erscheint. Es ist weniger möglich, all die Menschen damit abzuholen, die heute einsteigen. 

Für mich persönlich ist es zudem auch der unschöne Prozess, den ich immer wieder und ganz besonders im Zusammenhang mit einer von mir gegründeten Organisation erlebt habe, nämlich dass Frauen keine besseren Menschen sind. Sie bringen zwar besondere Erfahrungen mit, solange sie explizit anders sozialisiert werden – und das sind durchaus eine Sensibilisierung für Soziales und Kommunikation – doch eben auch deren Schattenseiten: unter anderem Aggression auf die psychische oft intrigante, indirekte Ebene verschoben, mangels Übung an offener Konfliktaustragung. Erlernte Hilflosigkeit, Passivität, bis hin zu sich in dieser einzurichten (alles, was ich als Frau «nicht gut kann», schiebe ich gerne den Männern zu). Das hindert Frauen eben auch, sich selber zu entwickeln, die Komfortzone zu verlassen. Diese Erwartung habe ich vor allem an die Frauen der gebildeten Mittelschicht.

Natürlich müssen Frauen eine Entscheidung mehr im Leben treffen, die sie nicht abschieben können: Kinder. In der Schweiz, wo das immer noch in den privaten Entscheidungsraum gestellt wird, ist es die Weggabelung Nummer eins, um Frauen und Männer immer wieder auf traditionelle Schienen zu bringen. Da gibt es dringenden Handlungsbedarf. 

Aber es ist eben nicht nur das. Psychologisch wälzen wir Menschen gerne unsere persönlichen Schwachstellen auf äussere Bedingungen und schauen nicht so gerne den eigenen Beitrag an. 

«Diverse Feminismen» gibt und gab es natürlich schon immer, beispielsweise analog zu den politischen Ansichten, die eine Person vertritt, wird sie auch die Weltsicht von dort in ihren «Feminismus» einbringen: So ist für FDP-Frauen eher der Fokus auf «Leistung erbringen», als auf Quoten. (Was sich bezüglich Quoten gerade etwas ändert). Oder christlich-bürgerlich orientierte Feministinnen haben ab einem gewissen Punkt eher Mühe mit gesellschaftsliberalen Forderungen und halten moralische Normen höher. Es gäbe noch sehr viele weitere Ausprägungen. Ich akzeptiere alles als «feministisch», solange sich nicht völlig kontraproduktive Konzepte dahinter verbergen. Also wenn es als «feministisch-emanzipativ» gelten soll, sich vom Mann belästigen zu lassen, wie die 99 prominenten französischen Frauen in einem Brief gegen die «Metoo»-Bewegung eingefordert hatten, kann ich nur den Kopf schütteln. Es ist auch ein Affront gegenüber Männern, dass die offenbar nicht anders flirten können sollen und unfähig seien, es zu lernen. Das ist ein sich angeeigneter Begriff für etwas ganz anderes: sich das patriarchale Konzept schönreden. Wobei dieses Konzept nicht persönlich konkrete Männer meint, sondern ein gesellschaftsordnendes System, das zwingend am Auslaufen ist, weil im 21. Jahrhundert nichts an unserem Leben mehr dazu passt. 

Sie analysieren Genderthemen mit Blick auf beiden Geschlechtern. Worum geht es Ihnen dabei? 

Wie schon erwähnt, lässt die Überwindung der patriarchalen Ordnung einer Gesellschaft bis hinunter ins Fundament keinen Stein auf dem Anderen. Es betrifft also zwingend beide Geschlechter. Hinzu kommt, dass nun auch Männerorganisationen Themen über die ungesunden Verhaltensweisen von traditionell erzogenen Männern aufklären, die hohe Selbstmordrate, die geringere Lebenserwartung, die verdeckten Depressionen, die Gewalt. Es brauchte natürlich eine Verschiebung der allgemeinen Normen, um das zu problematisieren, während es vorher einfach «normal» war. Doch mit zunehmender Zivilisierung steigt auch die Sensibilisierung: Beispielsweise Gewalt gehört nicht einfach mehr zur Gesellschaft, also schauen wir überall hin, wo sie ist und wie sie entsteht. Auch Gewalt an sich selber. Es ist völlig sinnlos, Genderthemen nur an einem Geschlecht zu analysieren.

Welche Faktoren hemmen Ihrer Meinung nach die Gleichstellung von Frau und Mann? 

In erster Linie ironisch ausgedrückt einmal die Menschen selber. Wie verändern uns mehrheitlich nicht gerne und auch nicht unsere Gewohnheiten. Gleichstellung anstreben ist anstrengend und hört nie auf. Konservative Menschen meiden das Neue noch mehr, das zeigt die sozialpsychologische Forschung. Demokratische Länder haben das Tempo ihrer Bevölkerung, direktdemokratische Länder wie die Schweiz noch mehr. Das ist erst mal gut und soll so bleiben. Wir müssen uns darauf einstellen können, dass es kleine bis sehr kleine Schritte vorwärts geht und öfter auch einmal einen zurück. Sicher ist die Erweiterung der männlichen Rolle und das Verinnerlichen nun ein längerer Prozess, der auch konkrete Anliegen wie Väterzeit/Elternzeit noch mental stark sabotiert. Vorher gibt es aber keine Durchbrüche, wir müssen ja Mehrheiten haben. 

Was wäre eine ideale Gesellschaft?  

Mir ist es eigentlich schon ideal genug. Wichtig ist, keinerlei Abbau an demokratischen Institutionen zuzulassen. Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung vom politischen Entscheidungsraum. Das kann auch die teilweise Einbettung in europäische oder globale Institutionen sein. Natürlich muss der Gleichstellungsprozess weitergehen und auch eine noch stärkere Institutionalisierung von gleichen Chancen ist wichtig, vor allem auch über die Gesellschaftsschichten hinweg. Gleichzeitig sollen die Freiheit und die Leistung des Individuums aber nicht zu sehr in den Hintergrund treten. Selbstbewusstsein entwickelt sich nur aufgrund eigener Leistung. Aber die Rahmenbedingungen dafür müssen fair sein.

Nicht in den eigenen vier Wänden

Mattea Meyer (*1987) politisierte bereits als Jugendliche. Heute ist sie Nationalrätin, Co-Präsidentin der Sans-Papier-Plattform Schweiz und Präsidentin des Schweizerischen Arbeiterhilfswerk Schweiz SAH.

Frau Meyer, was hat der Feminismus in der Schweiz bis jetzt erreicht? – Was noch nicht?

Mattea Meyer:Dass wir Frauen wählen können, dass es einen Mutterschaftsurlaub gibt, dass Gleichstellung im Gesetz verankert ist oder dass Vergewaltigung in der Ehe bestraft wird, haben wir engagierten Feministinnen der letzten hundert Jahren zu verdanken. Wir können heute auf dem aufbauen, wofür sie gekämpft haben.

Ich gehöre zu einer Generation Frauen (und Männer), denen vorgegaukelt wird, sie könnten alles sein und alles machen, was sie wollen. Du bist unzufrieden, dass du am Ende des Monats 1’000 Franken weniger im Portemonnaie hast als dein Arbeitskollege? Selber Schuld, du musst halt fordernder auftreten. Dich verletzen sexistische Sprüche? Du musst dich halt wehren. Damit wird der Kampf gegen die Ungleichheit und gegen Sexismus zu einem privaten Kampf in den eigenen vier Wänden. Doch das ist trügerisch und gefährlich. Es verdeckt, dass wir nach wie vor in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft leben.

Dass die feministische Bewegung politischer und stärker wird, macht Mut.

Weshalb braucht es mehr Frauen in der Politik? 

Weil nicht mehr länger ein paar mächtige, weisse, ältere Herren alleine bestimmen sollen, wie wir als Gemeinschaft in Zukunft zusammenleben sollen.

Care-Berufe – in unserer Gesellschaft typische «Frauenberufe» – sind verantwortungsvoll, anstrengend und schlecht bezahlt. Wie könnte das geändert werden?

Wenn ältere oder kranke Menschen nicht gepflegt oder kleine Kinder nicht betreut werden, dann geht es ihnen schlecht oder sie sterben sogar. Es ist für mich unverständlich, dass die Gesellschaft dieser wichtigen Arbeit so wenig Wert beimisst. Darüber braucht es endlich eine gesellschaftliche Debatte. Nicht zu vergessen, dass ein grosser Teil der Care-Arbeit unbezahlt und von Frauen geleistet wird. Diese unbezahlte Arbeit muss endlich anerkannt werden und zum Beispiel auch bei der Altersvorsorge mitberücksichtigt werden.

Können Männer etwas zum Feminismus beitragen?

Ja sicher, sie können nicht nur, sie müssen. Wir kommen nur vorwärts, wenn sich auch Männer mit ihren Rollen auseinandersetzen und wenn auch sie gegen einzwängende Rollenbilder und ungerechtfertigte Privilegien kämpfen. Ich finde, viele Männer sind zu still, wenn es um feministische Themen geht.

Welche Feminist_innen/Pionierinnen sollten unsere Leser_innen kennen?

Es gibt so viele beeindruckende Feminist_innen. Als Jugendliche haben mich die Bücher von Simone de Beauvoir inspiriert. Ich lese gerne Texte von Laurie Penny. oder auch Rebecca Solnit. Und ich diskutiere leidenschaftlich gerne mit Freundinnen und Freunden über Feminismus.

> Webseite von Mattea Meyer

IG Frau und Museum

Martha Beéry-Artho (*1941) ist Fachtherapeutin für kognitives Training. Sie hat 2010 die Interessengemeinschaft Frau und Museum gegründet, die sie seither leitet. 

Frau Beéry-Artho, Sie haben die IG Frau und Museum initiiert. Was hat Sie dazu inspiriert? 

Martha Beéry-Artho:Mir fiel, in allen Bereichen, in denen ich tätig war, auf, wie wenig von dem, wie Frauen gelebt und ihre Probleme im patriarchalen System gemeistert haben, erforscht, tradiert und aufgezeigt wurde. Meist werden in Museen und Medien stereotype Frauenbilder gezeigt oder – als Abschreckung – die eklatanten Abweichungen. Neu entwickelte Vorbilder sind Karrierefrauen in Männerrollen oder «Mehrzweckfrauen» die alle an sie gerichteten Ansprüche problemlos unter einen Hut bringen. So wollte ich weder sein noch werden.

Männern und Frauen fehlen deshalb auch heute noch wesentliche Informationen, wie sie ihre eigenen Vorstellungen der Gleichstellung im täglichen Leben einbringen können. Selbstdefinierte Ansprüche werden als nicht realisierbar dargestellt. Die Diskriminierung von Frauen über Jahrhunderte hinweg hat tiefe Spuren hinterlassen und setzt sich, wenn nicht bewusst gemacht, ungehindert fort. 

Das Museum in Österreich als zündender Funken

Vor einigen Jahren wurde ich auf das Frauenmuseum Hittisau aufmerksam. Ich besuchte die Ausstellung «Kleidung – unsere Zweite Haut» und hätte mich nicht gewundert, im Bregenzerwald eine Sammlung von Trachten zu sehen. Weit gefehlt! Die witzige und sehr aufschlussreiche Ausstellung präsentierte verschiedene Kleidungsstücke als Kunstobjekte gestaltet und zeigte dabei auf, wie sich Frauen darin bewegen und fühlen. Als ich dieses kleine, sehr feine Museum verliess, wusste ich, das brauchen wir in der Schweiz auch: ein Museum ohne männliches Heldentum, das frau beschwingt und mit neuen Einsichten über sich selbst verlässt. 

Was genau ist das Ziel der Interessengemeinschaft? 

Die IG Frau und Museum wurde gegründet, weil Frauen und ihre Geschichte in Museen oft fehlen, stereotyp und/oder im tradierten Kontext gezeigt werden. Unser Ziel ist es, einen Ort zu schaffen, in dem Frauen, ihre Geschichte und ihre Situation aus ihrer Sicht aufzeigen können. Wir entwickeln Modelle, die einen «weiblichen Blick» auf die Geschichte und neue Entwicklungen ermöglichen. Mit mehreren Anlässen, zwei Ausstellungen und der Mitwirkung bei der International Association of Women’s Museums gaben wir bisher unserer Idee Gestalt. 

Zurzeit entwickeln wir szenische Führungen. Dies zum Beispiel im Historischen- und Völkerkundemuseum in St. Gallen (Frauenleben vor 500 Jahren – vier St. Galler Schicksale). Diese Führung macht Frauen in ihrem Lebensumfeld während der Reformation erlebbar. Wir zeigen auf, was sich damals für Frauen änderte und wie sich damalige Geschehnisse auf das heutige Leben auswirken. Uns interessiert auch, wie und durch wen sich das jeweilige Frauenbild etabliert hat. Wie hat es sich verändert? Wie kann es weiter entwickelt werden? 

Filme, Romane, Online-Medien spielen eine grosse Rolle in der Verbreitung von Frauenbildern und Weiblichkeitsidealen. Wie ist das bei den darstellenden Künsten? 

Die häufig zitierte Frage «Muss Frau nackt sein, um ins Museum zu kommen?» kommt nicht von ungefähr. Die bisherigen Darstellungen sind meist von Männern und ihrem männlichen Blick auf Frauen geprägt. Hingegen ist die Tatsache, dass Frauen die Gesellschaft immer mitgestaltet und dadurch das Überleben der Menschheit ermöglicht haben, sozusagen aus der Geschichte getilgt. Genauso wie die vielen Frauen, die mit hervorragenden Leistungen in Religion, Kultur, Wissenschaft, Bildung und Wirtschaft und später auch Politik, gesellschaftliche Entwicklungen gefördert haben. 

Auch von Frauen, die für eine Verbesserung der Stellung der Frauen gekämpft haben, gibt es noch keine Denkmäler. Diese Darstellungen sollten in den Museen, im öffentlichen Raum und in den Medien einen gleichberechtigten Platz erhalten. Erst so wird die in der Bundesverfassung vorgesehene Gleichstellung der Geschlechter auch in den Köpfen, im kollektiven Bewusstsein, möglich. 

Wie wäre Ihr Leben verlaufen, wenn Sie ein Mann wären? Wie wäre Ihr heutiger Alltag?

Ich habe einmal meine Mutter gefragt, ob sie an meiner Stelle lieber einen Buben gehabt hätte. Die Frage war damals berechtigt, alle hatten lieber Buben, bzw. Stammhalter. Meine Mutter antwortete zu meinem grossen Erstaunen: «Ja, eigentlich schon, aber nicht wegen des Stammhalters, sondern weil Männer ein leichteres Leben haben». Wie ehrlich und weitsichtig! Als Detaillistin und nach dem Tod meines Vaters alleinernährend und -erziehend wusste sie genau, wie schwierig es für eine Frau war, ein selbstständiges Leben zu führen. 

Mein Leben als Mann?
Ich glaube, ich wäre Journalist geworden: Hintergrundberichte und Reportagen haben mich immer interessiert. Ob ich gemerkt hätte, dass Frauen die Situation in den meisten Fällen anders erleben und beurteilen? Ich glaube es kaum. Den wenigsten Männern, mit denen ich darüber spreche, fällt dies auf. Vielleicht wäre ich auch Priester geworden, dies wegen der Seelsorge. Heute weiss ich, dass diese nach päpstlichem Willen ausgeübte Seelsorge viele Frauen in schwierige Lebensumstände gelenkt und sie und ihre Familien dadurch traumatisiert hat. Ich bin deshalb und auch wegen dem von der Kirche propagierten Frauenbild aus der Kirche ausgetreten. Gerne wäre ich Komponist geworden. Für Mädchen war es damals kein Thema, es gab sie nicht einmal in den Musikgesellschaften als Mitwirkende. 

Doch ich will mir gar nicht vorstellen, wie ich mein Leben als Mann verbringen würde. Zurzeit arbeite ich mit einer Autorin meine Frauenbiografie auf. Meine Kindheit und die darin enthaltene «Indoktrination zum Frausein» nach den Vorstellungen von Kirche und Staat,  die zu einem beachtlichen Teil auf falschen Annahmen beruhen. Wenn ich zurückblicke, wird mir bewusst, was sich geändert hat, vieles zum Positiven, etliches nicht in die von mir erwünschte Richtung. 


Als Fachtherapeutin für kognitives Training (bewusster Umgang mit Gehirn- und Gedächtnisleistungen) setze ich auf natürliche Intelligenz und beobachte deshalb die Entwicklung der künstlichen Intelligenz mit grosser Sorge. Ich befürchte, dass das, was wir emotionale Intelligenz nennen, ausgeschaltet sein wird und denke, wir würden gut daran tun, uns zu überlegen, wohin das unweigerlich führt. 


Welche Feminist_innen sollten unsere Leser_innen kennen?

Ganz wichtig ist und war für mich Louise Pusch mit der von ihr entwickelten frauenzentrierten Sprache und damit auch des Denkens und dann ganz klar auch Iris von Roten. Ihr Buch «Frauen im Laufgitter» hat meine Beobachtungen aus der Kindheit bestätigt und noch einige «Problemstellen» hinzugefügt, die trotz aller Fortschritte immer noch bestehen. 

> International Association of Women’s Museums

> Interessengemeinschaft Frau und Museum

Geburtlichkeit

Dr. Ina Praetorius ist feministische Autorin und Theologin.

Frau Praetorius, Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel «Immer wieder Anfang – Texte zum geburtlichen Denken». Was genau ist «geburtliches Denken»?

Ina Praetorius:In der Philosophiegeschichte hat man uns Menschen viele Jahrhunderte lang als «die Sterblichen» bezeichnet. Man hat uns also vom Ende her gedacht, und das hat sich stark auf das Menschenbild ausgewirkt, das bis heute dominant ist. Dieses Menschenbild ist geprägt von Todesangst und entsprechend von der Ausrichtung auf ein phantasiertes Jenseits. Das Jenseits hat in der Geschichte verschiedene Formen angenommen: Paradies, Himmel und Hölle, Ewigkeit, Apokalypse, perfekt funktionierende Marktwirtschaft, klassenlose Gesellschaft, makellose Fit- und Wellness… Den Frauen wird in dieser zweigeteilten Weltkonstruktion eine undankbare Rolle zugeschrieben: Als gebärfähige Menschen sind sie gewissermassen schuld daran, dass der reine ewige Geist eingesperrt wird in einen vergänglichen Körper. Verräterisch ist die Etymologie: Im Wort Materiesteckt Mater, dieMutter. Die Materia, das Mütterliche, der stumme «Mutterboden» gilt konsequenterweise als das Gegenteil von Geist, woraus sich etliche der sattsam bekannten Ausschlussmechanismen ergeben: Ausschluss der Frauen aus dem Priesteramt, der höheren Bildung, dem Wahlrecht, der Definitionsmacht etc. Im Wort Natur steckt das lateinische Verb nasci. Nasci heisst geborenwerden. Indem man unsere Geburtlichkeit verdrängt hat, hat man auch vergessen, dass wir nicht Herren, sondern Teil der Natur sind, dass wir also uns selbst zerstören, wenn wir die so genannte «Umwelt» nicht respektieren.

Wenn ich nun beginne, uns Menschen von unserem realen Anfang, der Geburt her zu denken, dann rücken andere Aspekte des Menschseins ins Zentrum: Angewiesenheit auf eine heile Natur und aufeinander, Gestaltungslust und Gestaltungsfreiheit, Neubegehren, Experimentierfreude, die Fähigkeit, Neues zu beginnen, ein positives Verständnis von Körperlichkeit und Endlichkeit. Ich finde es nicht nur faszinierend, sondern auch in einem weiten, ökologischen Sinne heilsam, an den Grundlagen unserer Denkgewohnheiten zu arbeiten. «Geburtliches Denken» bedeutet nicht nur, uns Menschen als geborene, geburtliche Wesen wahrzunehmen, sondern auch: einen neuen Anfang in der Denkgeschichte zu setzen. Manche nennen das «naiv». Auch das Wort naivleitet sich vom lateinischen Verb nasciab. Konstruktiv verstanden bedeutetnaives Denken: mit dem Anfang anfangen.Naivität in diesem philosophisch qualifizierten positiven Sinne ist zukunftsweisend.

Welche Bedeutung könnte das für die Gleichstellung von Frau und Mann haben?

Ich finde das Wort und das Ziel «Gleichstellung» oberflächlich. Sicher: Es war wichtig, für das Wahlrecht zu kämpfen, für ein nachpatriarchales Eherecht, für das Recht der Frauen, in den gegebenen Institutionen mitzureden: in den Parlamenten, Parteien, Universitäten. Aber «Gleichstellung» in einem System, das von weissen bürgerlichen Männern unter Ausschluss von weit mehr als der Hälfte der Menschheit fabriziert wurde, kann nicht das Ziel sein. Vielmehr geht es langfristig darum, das menschliche Zusammenleben diesseits der Jahrhunderte lang angemassten Definitionsmacht eines weissen männlichen Clubs neu zu organisieren. Ich habe damit angefangen, indem ich im Jahr 2014 einen Text geschrieben und im Jahr 2015 einen Verein mitgegründet habe, die beide «Wirtschaft ist Care» heissen. Wir fordern nicht, dass Frauen* in einer Wirtschaft «gleichgestellt» werden, die weiterhin ums weisse männliche Ego und seine Geldvermehrungsfantasien kreist. Wir klären stattdessen, was Wirtschaft ist und sein soll. Wirtschaft ist, übrigens der traditionellen Lehrbuchdefinition zufolge: die Theorie und Praxis der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, also Sorge füreinander, also Care. Unbezahlte Care-Arbeit ist demzufolge nicht eine Randregion, sondern die Mitte der Wirtschaft. Das hat Folgen!

Was denken Sie, wie kommt es, dass sich alte Rollenbilder so hartnäckig halten?

Die Welt-Architektur, die ich gerade beschrieben habe, ist mehrere Tausend Jahre alt. Sie hat sich fest mit der Sprache, der Moral und den Institutionen verbunden. Ein solches umfassendes Konstrukt lässt sich nicht von einem Tag auf den anderen aus den Angeln heben.

Nach wie vor arbeiten viele Frauen ehrenamtlich und stehen nach einer Scheidung oder im Alter mittellos da, wie könnte das geändert werden?

Durch ein erneuertes progressives Steuersystem, eine bedingungslose Existenzsicherung für alle, eine Aufnahme der unbezahlten Arbeit ins Bruttoinlandsprodukt, neu gedachte Begriffe von Arbeit, Produktivität und Wohlstand in den Wissenschaften, insbesondere in der Leitwissenschaft Ökonomie, und in den Medien, Care-zentrierte Unterrichtsmaterialien und mehr. Wir sollten nicht so tun, als wüssten wir nicht längst, was es braucht, damit die globale Gesellschaft gerechter und mitweltfreundlicher wird. Und es gibt Fortschritte: Schüler_innen setzen sich an die Spitze der Bewegung für ein menschenfreundliches Klima, und dieses Jahr hat man sogar am WEF wieder darüber diskutiert, dass es Steuern für Reiche und Superreiche braucht.

Wie wäre Ihr Leben verlaufen, wenn Sie ein Mann wären? Wie wäre Ihr heutiger Alltag?

Diese Frage stelle ich mir nicht.

Welche Frauen sollten unsere Leser_innen kennen?

Zuallererst kommt mir Hannah Arendt in den Sinn. Von ihr stammt die Idee, uns Menschen als geburtlich zu denken. Das ist epochal. Aber im Grunde geht es nicht darum, bestimmte Frauen zu Heldinnen oder Autoritäten aufzubauen. Es geht darum anzuerkennen, dass uns nicht mehr der «Herrgott» die Welt erklärt, und auch nicht seine irdischen Abbilder mit ihrer mannhaften, vermeintlich aufgeklärten Vernunft. Es geht darum, diesseits dieser verkehrten Ordnung weltfreundliche Definitionsmacht zu übernehmen, als Frauen*, Männer* und andere.

Foto: Katja Nideröst

> Verein «Wirtschaft ist Care»

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