2019

Geburtlichkeit

Dr. Ina Praetorius ist feministische Autorin und Theologin.

Frau Praetorius, Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel «Immer wieder Anfang – Texte zum geburtlichen Denken». Was genau ist «geburtliches Denken»?

Ina Praetorius:In der Philosophiegeschichte hat man uns Menschen viele Jahrhunderte lang als «die Sterblichen» bezeichnet. Man hat uns also vom Ende her gedacht, und das hat sich stark auf das Menschenbild ausgewirkt, das bis heute dominant ist. Dieses Menschenbild ist geprägt von Todesangst und entsprechend von der Ausrichtung auf ein phantasiertes Jenseits. Das Jenseits hat in der Geschichte verschiedene Formen angenommen: Paradies, Himmel und Hölle, Ewigkeit, Apokalypse, perfekt funktionierende Marktwirtschaft, klassenlose Gesellschaft, makellose Fit- und Wellness… Den Frauen wird in dieser zweigeteilten Weltkonstruktion eine undankbare Rolle zugeschrieben: Als gebärfähige Menschen sind sie gewissermassen schuld daran, dass der reine ewige Geist eingesperrt wird in einen vergänglichen Körper. Verräterisch ist die Etymologie: Im Wort Materiesteckt Mater, dieMutter. Die Materia, das Mütterliche, der stumme «Mutterboden» gilt konsequenterweise als das Gegenteil von Geist, woraus sich etliche der sattsam bekannten Ausschlussmechanismen ergeben: Ausschluss der Frauen aus dem Priesteramt, der höheren Bildung, dem Wahlrecht, der Definitionsmacht etc. Im Wort Natur steckt das lateinische Verb nasci. Nasci heisst geborenwerden. Indem man unsere Geburtlichkeit verdrängt hat, hat man auch vergessen, dass wir nicht Herren, sondern Teil der Natur sind, dass wir also uns selbst zerstören, wenn wir die so genannte «Umwelt» nicht respektieren.

Wenn ich nun beginne, uns Menschen von unserem realen Anfang, der Geburt her zu denken, dann rücken andere Aspekte des Menschseins ins Zentrum: Angewiesenheit auf eine heile Natur und aufeinander, Gestaltungslust und Gestaltungsfreiheit, Neubegehren, Experimentierfreude, die Fähigkeit, Neues zu beginnen, ein positives Verständnis von Körperlichkeit und Endlichkeit. Ich finde es nicht nur faszinierend, sondern auch in einem weiten, ökologischen Sinne heilsam, an den Grundlagen unserer Denkgewohnheiten zu arbeiten. «Geburtliches Denken» bedeutet nicht nur, uns Menschen als geborene, geburtliche Wesen wahrzunehmen, sondern auch: einen neuen Anfang in der Denkgeschichte zu setzen. Manche nennen das «naiv». Auch das Wort naivleitet sich vom lateinischen Verb nasciab. Konstruktiv verstanden bedeutetnaives Denken: mit dem Anfang anfangen.Naivität in diesem philosophisch qualifizierten positiven Sinne ist zukunftsweisend.

Welche Bedeutung könnte das für die Gleichstellung von Frau und Mann haben?

Ich finde das Wort und das Ziel «Gleichstellung» oberflächlich. Sicher: Es war wichtig, für das Wahlrecht zu kämpfen, für ein nachpatriarchales Eherecht, für das Recht der Frauen, in den gegebenen Institutionen mitzureden: in den Parlamenten, Parteien, Universitäten. Aber «Gleichstellung» in einem System, das von weissen bürgerlichen Männern unter Ausschluss von weit mehr als der Hälfte der Menschheit fabriziert wurde, kann nicht das Ziel sein. Vielmehr geht es langfristig darum, das menschliche Zusammenleben diesseits der Jahrhunderte lang angemassten Definitionsmacht eines weissen männlichen Clubs neu zu organisieren. Ich habe damit angefangen, indem ich im Jahr 2014 einen Text geschrieben und im Jahr 2015 einen Verein mitgegründet habe, die beide «Wirtschaft ist Care» heissen. Wir fordern nicht, dass Frauen* in einer Wirtschaft «gleichgestellt» werden, die weiterhin ums weisse männliche Ego und seine Geldvermehrungsfantasien kreist. Wir klären stattdessen, was Wirtschaft ist und sein soll. Wirtschaft ist, übrigens der traditionellen Lehrbuchdefinition zufolge: die Theorie und Praxis der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, also Sorge füreinander, also Care. Unbezahlte Care-Arbeit ist demzufolge nicht eine Randregion, sondern die Mitte der Wirtschaft. Das hat Folgen!

Was denken Sie, wie kommt es, dass sich alte Rollenbilder so hartnäckig halten?

Die Welt-Architektur, die ich gerade beschrieben habe, ist mehrere Tausend Jahre alt. Sie hat sich fest mit der Sprache, der Moral und den Institutionen verbunden. Ein solches umfassendes Konstrukt lässt sich nicht von einem Tag auf den anderen aus den Angeln heben.

Nach wie vor arbeiten viele Frauen ehrenamtlich und stehen nach einer Scheidung oder im Alter mittellos da, wie könnte das geändert werden?

Durch ein erneuertes progressives Steuersystem, eine bedingungslose Existenzsicherung für alle, eine Aufnahme der unbezahlten Arbeit ins Bruttoinlandsprodukt, neu gedachte Begriffe von Arbeit, Produktivität und Wohlstand in den Wissenschaften, insbesondere in der Leitwissenschaft Ökonomie, und in den Medien, Care-zentrierte Unterrichtsmaterialien und mehr. Wir sollten nicht so tun, als wüssten wir nicht längst, was es braucht, damit die globale Gesellschaft gerechter und mitweltfreundlicher wird. Und es gibt Fortschritte: Schüler_innen setzen sich an die Spitze der Bewegung für ein menschenfreundliches Klima, und dieses Jahr hat man sogar am WEF wieder darüber diskutiert, dass es Steuern für Reiche und Superreiche braucht.

Wie wäre Ihr Leben verlaufen, wenn Sie ein Mann wären? Wie wäre Ihr heutiger Alltag?

Diese Frage stelle ich mir nicht.

Welche Frauen sollten unsere Leser_innen kennen?

Zuallererst kommt mir Hannah Arendt in den Sinn. Von ihr stammt die Idee, uns Menschen als geburtlich zu denken. Das ist epochal. Aber im Grunde geht es nicht darum, bestimmte Frauen zu Heldinnen oder Autoritäten aufzubauen. Es geht darum anzuerkennen, dass uns nicht mehr der «Herrgott» die Welt erklärt, und auch nicht seine irdischen Abbilder mit ihrer mannhaften, vermeintlich aufgeklärten Vernunft. Es geht darum, diesseits dieser verkehrten Ordnung weltfreundliche Definitionsmacht zu übernehmen, als Frauen*, Männer* und andere.

Foto: Katja Nideröst

> Verein «Wirtschaft ist Care»

> Webseite von Ina Praetorius

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