2019

Gleichstellen

Prof. Dr. Lucia Lanfranconi (*1983), ist Dozentin und Projektleiterin an der HSLU und selbstständige Expertin/Workshopleiterin für Lohngleichheit und Geschlechtergleichstellung. Aktuell absolviert sie einen Forschungsaufenthalt an der UC Berkeley School of Social Welfare.

Frau Lanfranconi, zusammen mit Ihrer Schwester Romana Lanfranconi und ihrem Team (VOLTAFILM, Luzern) haben Sie den Dokfilm «Gleichstellen – eine Momentaufnahme» produziert. Worum geht es in diesem Projekt? Wer soll damit angesprochen werden?

Lucia Lanfranconi: Das Ziel von www.gleichstellen.ch ist es, die Diskussion über die Gleichstellung von Frau und Mann in der Arbeitswelt zu fördern und Massnahmen zur Verbesserung der Gleichstellung anzuregen. Ansprechen, wollen wir alle: Frauen wie Männer, Arbeitnehmende, wie Arbeitgebende. Denn: Gleichstellung geht uns alle an! Im Film «Gleichstellen – eine Momentaufnahme» zeigen wir daher verschiedene Perspektiven auf das Thema: Eine Angestellte übernimmt nach ihrem Mutterschaftsurlaub eine andere Aufgabe und erhält dafür weniger Lohn. Eine Personalchefin bedauert, dass nur ein einziger Mann in der Pflege ihres Altersheim arbeitet. Ein Arbeitgeber sagt, er wäre bereit, mehr Männern eine Teilzeitarbeit anzubieten, aber die Männer würden nicht danach fragen. Der Einblick in den Alltag von zwei Unternehmen soll unbewusste Mechanismen sichtbar machen und zu Diskussionen zum Abbau von Hindernissen bezüglich Lohngleichheit, Karriere, Elternschaft oder Teilzeitarbeit motivieren.

Wie lässt sich Gleichstellung erreichen? Das Gleichstellungsgesetz scheint nicht wirklich zu greifen. Immer noch sind Männer die Haupternährer von Familien, weil ihre Löhne höher sind als diejenigen der Frauen. Also arbeiten Frauen Teilzeit, oft in «Frauenberufen», die schlecht bezahlt sind. Wie liesse sich dieser Kreislauf unterbrechen?

Das Schweizerische Gleichstellungsgesetz ist zwar im internationalen Vergleich ein relativ «griffiges» Instrument in Bezug auf Klagen gegen Diskriminierung vor dem Gericht. Jedoch wissen wir spätestens seit der Evaluation des Gleichstellungsgesetzes vor mehr als 10 Jahren, dass Klagemöglichkeit zur Durchsetzung des Gleichstellungsgebotes, wie es in Verfassung und Gesetz seit bald 40 resp. mehr als 20 Jahren verankert ist, nicht ausreicht. Es braucht zusätzliche Durchsetzungsmechanismen. Die Selbstkontrolle der Unternehmen im Bereich der Lohngleichheit ist ein erster sehr wichtiger Schritt. Um die Chancengleichheit von Frauen und Männern im Erwerbsleben wirklich zum Durchbruch zu verhelfen (tatsächliche Chancengleichheit bei Verteilung von Aufgaben, Führungspositionen, Möglichkeit zur Teilzeitarbeit, etc.) braucht es weitere verbindliche Massnahmen in Unternehmen (interessierte Unternehmen können sich zum Beispiel hier inspirieren und hier zertifizieren lassen). 
Darüber hinaus braucht die Schweiz bessere familienpolitische Strukturen: Vaterschafts- und Elternurlaub, mehr subventionierte Kita-Plätze etc. Neben diesen Massnahmen, können und müssen auch die Frauen und Männer ihren Beitrag leisten: Je mehr Männer auch ihre Aufgabe in den Familien nachgehen und zum Beispiel Teilzeitarbeit für die Betreuung von Kindern oder betagten Eltern einfordern und je mehr Frauen aktiv höheren Lohn und gute Positionen einfordern umso mehr kann der Wandel gelingen. Daher: Gleichstellung geht uns alle an!

Was denken Sie, warum lassen sich althergebrachte Strukturen nur so langsam verändern?

Das hat verschiedene Gründe: Organisationen wie Unternehmen und z.B. ihre gewachsenen Lohnstrukturen und -systeme sind relativ träge: Sie wandeln sich nur langsam. Sowohl auf der Ebene der ganzen Schweiz, wie auch innerhalb eines einzelnen Unternehmens reicht es nicht aus festzuschreiben, dass man die Gleichstellung von Frauen und Männern erreichen will. Es braucht auf beiden Ebenen weitere Massnahmen und den tatsächlichen Willen, d.h. auch die nötigen Ressourcen, um die Strukturen effektiv zu verändern. Dies braucht generell Zeit! Und: In der Schweiz gibt es einige Hintergründe, warum dieser Wandel besonders langsam voran geht (im Vergleich zum europäischen Umfeld): z.B. späte Einführung des Frauenstimmrechts, was wiederum mit Föderalismus und direkter Demokratie zusammenhängt, starke Stellung vom Arbeitsmarkt und Vetretern/Vertreterinnen der Arbeitgebenden in der Politik, eher wenig Ressourcen und Macht für gleichstellungspolitische Institutionen etc.

Wann ist Gleichstellung erreicht?

Gleichstellung passiert schon in sehr vielen Momenten: So haben mein Mann und ich uns immer Kinderbetreuung und Beruf selbstbestimmt aufgeteilt und leben gerade aktuell das Modell, dass ich Vollzeit arbeite und mein Mann ganz für unsere drei Kinder und das Haushaltes-Management verantwortlich ist. Es ist schön, dass wir das leben können und dass sowohl mir wie auch meinem Mann viele Leute dazu gratulieren! Gleichstellung wäre aber dann vollständig erreicht, wenn uns niemand mehr dazu gratulieren müsste – weil es einfach normal ist, dass ALLE Frauen und Männer ihr Leben nach ihren Wünschen und Potentialen gestalten würden. Gleichstellung wäre also etwa dann erreicht, wenn alle junge Frauen und Männern ihre Berufswahl und die Entscheidung für eine Familie tatsächlich unabhängig von ihrem Geschlecht treffen könnten … Zudem ist für mich Gleichstellung nicht auf das Geschlecht und auch nicht auf das Erwerbsleben begrenzt. Umfassende Gleichberechtigung oder Gleichstellung wäre erreicht, wenn alle Menschen unabhängig ihrer Hautfarbe, dem Einkommen und der Ausbildung ihrer Eltern, ihrer sexuellen Orientierung und ihrer politischen und religiöser Gesinnung und vor allem unabhängig ihres Passes ihre Leben nach ihren Potenzialen und Wünschen gestalten und Leben könnten! 

Welche Frauen sollten unsere Leserinnen und Leser kennen?

Inspiriert hat mich zum Beispiel Silvia Staub Bernasconi und ja, auch meine Mutter Edith Lanfranconi-Laube und meine Schwester Romana Lanfranconi.

> Gleichstellen: www.gleichstellen.ch
> Verein für Chancen-und Lohngleichheit, Schweiz: www.vclg.ch
> Prof. Dr. Lucia Lanfranconi, Hochschule Luzern

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Video: «Gleichstellen» von VOLTAFILM (Vimeo)