2019

Gewalt an Frauen*


Anna-Béatrice Schmaltz (*1992) arbeitet bei der feministischen Friedensorganisation cfd. Sie leitet die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen*».

Frau Schmaltz, in der Schweiz wird kaum über Gewalt an Frauen gesprochen. Gibt es sie gar nicht? Oder wird sie bei uns stillschweigend geduldet?

Anna-Béatrice Schmaltz:Über Gewalt zu sprechen, ist gesellschaftlich tabuisiert. Insbesondere wenn es sich dabei um häusliche Gewalt handelt oder um Gewalt durch Menschen, die das Opfer kennt, bleibt das Geschehen im Dunkeln.
Jede fünfte Frau in der Schweiz erfährt mindestens einmal in ihrem Leben häusliche Gewalt und alle zwei Wochen kostet sie einer Frau das Leben. Im Jahr 2018 wurden laut polizeilicher Kriminalstatistik im Rahmen von häuslicher Gewalt 24 Frauen und Mädchen ermordet.
90 % der Betroffenen von häuslicher Gewalt sind Frauen. Zudem gibt es auch ein grosses Dunkelfeld. Das Problem ist also massiv.

Wie verhält es sich mit der sexualisierten Gewalt?

Auch sexualisierte Gewalt ist tabuisiert und kann Teil von häuslicher Gewalt sein. Im Jahr 2018 wurden laut polizeilicher Kriminalstatistik 536 sexuelle Nötigungen und 604 Vergewaltigungen an Frauen angezeigt. 

Sexuelle Gewalt gegen Männer ist ebenfalls stark tabuisiert. Auch das ist ein Problem, das Geschlechterstereotypen zementiert.

Strukturelle Gewalt

Gewalt an Frauen hat aber noch andere Dimensionen als physische und psychische Gewalt. Auch strukturelle Gewalt ist ein gesellschaftliches Problem, das viel zu wenig bekannt und bewusst ist. Frauen erleben strukturelle Gewalt vielfältig. Beispielsweise durch Lohnungleichheit, fehlende Vereinbarkeit von Familie und Beruf und stereotype Abwertung. Frauen sind in starkem Mass auch von Gewalt im digitalen Raum, im Internet, betroffen, wo sie beschimpft und bedroht werden.

Wie kommt es, dass die Täter fast immer männlich sind?

Gewalt hat oft mit toxischen Männlichkeitsvorstellungen zu tun. Männer müssen Dominanz, Macht und Stärke demonstrieren und stets alles im Griff haben. Dies kann zu Gewalt gegen sich selbst aber auch gegen andere führen. Enge und starre Rollenbilder und Geschlechterstereotypen beeinflussen Gewalt an Frauen. Gewalt hat mit Machtausübung zu tun – aber auch mit Überforderung. Die Gründe für die Ausübung von Gewalt sind vielfältig. 

Was hat Ihrer Meinung nach die #metoo-Bewegung bewirkt?

Die #metoo-Bewegung hat dazu beigetragen, dass öfter über Gewalt gegen Frauen gesprochen wird. Betroffene sind gestärkt und fühlen sich weniger allein. Gesamtgesellschaftlich hat sich ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass Gewalt an Frauen, leider viel zu häufig vorkommt und dass Gewalt vielfältige und subtile Formen kennt. Die Bewegung hat auch gezeigt, dass Gewalt an Frauen kein Phänomen der Einzelfälle ist, sondern ein grosses und verbreitetes soziales Problem.

Weshalb, denken Sie, werden Frauenanliegen immer wieder unter den Teppich gekehrt?

Das hat mit patriarchalen Strukturen zu tun. Der Anspruch auf Gleichstellung beinhaltet, dass Männer gewisse Privilegien aufgeben müssen. Es scheint das Bewusstsein zu fehlen, dass Gleichstellung allen nützt. Weiter wird die fehlende Gleichstellung als naturgegeben legitimiert, was extrem problematisch ist. Frauenanliegen werden zudem unter den Teppich gekehrt, weil die politische und wirtschaftliche Macht mehrheitlich noch immer bei Männern liegt. 

Was können wir alle tun gegen Gewalt an Frauen?

Es braucht ein grösseres Bewusstsein für fehlende Gleichstellung und dafür, dass Gewalt uns alle betreffen kann. Weiter braucht es genügend finanzielle Ressourcen für Beratung, Prävention und Schutz. Es ist wichtig, dass Betroffene ernstgenommen werden und professionelle Unterstützung erhalten. Die konkrete und umfassende Umsetzung der Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) ist elementar. Zudem braucht es einen gesellschaftlichen Wandel weg von starren Rollenbildern. 
Wichtig ist auch, dass bereits Kinder lernen die Grenzen des Gegenübers zu respektieren. 

Die feministische Bewegung setzt sich seit langem gegen Gewalt ein. Persönlich kann sich jede und jeder gegen Gewalt einsetzen, in dem sie oder er Zivilcourage zeigt, am 14. Juni 2019 am Frauenstreik teilnimmt oder auch Kampagnen wie die «16 Tage gegen Gewalt an Frauen*» unterstützt.

Abschliessend ist zu sagen: Gleichstellung ist die beste Prävention gegen Gewalt an Frauen.

> cfd Christlicher Friedensdienst

> 16 Tage gegen Gewalt an Frauen*