2019

Was uns verbindet, nicht was uns trennt

Dr. iur. Sibylle von Heydebrand setzt sich lokal und global für politische, rechtliche und gesellschaftliche Gleichberechtigung ein. Frauen und Männer sollen auf Augenhöhe zusammenleben. Sie plädiert zudem für eine bessere Verankerung des langen Wegs zur Gleichberechtigung im historischen Gedächtnis der Schweiz.
2016 war sie Präsidentin des Jubiläumskomitees «50 Jahre Frauenstimmrecht im Kanton Basel-Stadt». Mit ihrem Projekt «FrauenBasel» setzt sie sich für die Sichtbarkeit des Engagements von Frauen und Frauenorganisationen ein. Sie ist Mitglied der International Alliance of Women und ab Januar 2020 internationale NGO Vertreterin am Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf. Sie arbeitet als Dozentin in der Berufs- und Erwachsenenbildung.

Sibylle von Heydebrand, warum sollen wir zurückblicken und uns mit dem langen Weg zur Gleichberechtigung befassen?

Sibylle von Heydebrand: Am Anfang steht die Pflege einer Erinnerungskultur, damit die Geschichte der Unabhängigkeit der Frauen im historischen Gedächtnis der Schweiz besser verankert wird. Denn wer sich nicht erinnert, kann nicht aus der Geschichte lernen. «Lessons Learned» bedeutet, aus Erfahrungen neue Erkenntnisse für die Zukunft zu gewinnen.

Und was sind nun die Lessons Learned?

Der lange Weg zur politischen Gleichberechtigung von Frauen und Männern zeigt exemplarisch auf, wie ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandel in der Schweiz herbeigeführt werden kann.
Dabei ist zweierlei bemerkenswert: Erstens hat die Schweizer Frauenbewegung – trotz grosser Differenzen innerhalb der Bewegung – über Generationen hinweg eine Taktik entwickelt, mit der sie die Männer überzeugen konnte, ihnen das Stimmrecht und damit die politische Gleichberechtigung zuzugestehen. Nirgendwo anders auf der Welt haben sich die Frauen ihre politischen Rechte gegen einen männlichen Souverän erkämpft. Zweitens ist auch beachtenswert, dass erst der Wunsch, die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarates (EMRK) zu ratifizieren, den vermutlich entscheidenden Schub gab, der 1971 auf eidgenössischer Ebene zur Einführung des Frauenstimmrechts führte. Die vorbehaltlose Unterzeichnung der EMRK bedeutete internationalen Respekt für die Schweiz und war deshalb den (männlichen) Stimmberechtigten wichtig – wichtiger als weiterhin Widerstand gegen das Frauenstimmrecht zu leisten.

Lessons Learned: Beides, hartnäckige Überzeugungsarbeit über Generationen und Wahrung der internationalen Reputation, waren ausschlaggebend für den gesellschaftlichen Wandel. 

Gemäss einer neuen Studie des UNO-Kinderhilfswerks Unicef (2019) belegt die Schweiz bei der Familienfreundlichkeit in Europa den letzten Platz. Dieses Ergebnis ist kein Ruhmesblatt für die Schweiz und könnte einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie Schubkraft verleihen – so wie 1971 die Unterzeichnung der EMRK die Einführung des Frauenstimmrechts beschleunigt hat.

Die politische Gleichberechtigung ist prima vista aus rechtlicher Sicht erreicht, nicht jedoch die tatsächliche gleichberechtigte Teilhabe der Frauen in der Politik. 

Was ist Ihrer Meinung nach zu tun?

Frauen sind noch immer auf allen politischen Ebenen untervertreten. Um die tatsächliche gleichberechtigte Teilhabe der Frauen in der Politik zu erreichen, bedarf es der Erkenntnis der politischen Parteien, dass hier Handlungsbedarf besteht und ihnen hier eine Schlüsselrolle zukommt. Die Ergebnisse der Parlamentswahlen im Herbst 2019 zeigen, dass die politischen Parteien auf dem richtigen Weg sind.

Wo verorten Sie weitere Baustellen auf dem Weg in eine gleichberechtigte Gesellschaft?

Viele Diskriminierungen aufgrund des Geschlechtes sind in den letzten Jahrzehnten beseitigt worden. Die materielle Gleichberechtigung ist jedoch nicht erreicht. Ungleichheiten mit wirtschaftlich negativen Konsequenzen für Frauen erweisen sich als hartnäckig: So fordern Frauen seit über hundert Jahren gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit, erstmals 1873, am 1. Schweizer Arbeiterkongress. Seit 1981 ist diese Forderung explizit in der Bundesverfassung verankert. Seit Jahrzehnten lautet der Tenor, dass es sich mit dem Gerechtigkeitsempfinden nicht vereinbaren lässt, Frauen für gleiche oder gleichwertige Arbeit schlechter zu bezahlen. Die tieferen Frauenlöhne haben existentielle Folgen; so sind Frauen viel öfter von Altersarmut betroffen und alleinerziehende Frauen überdurchschnittlich häufig auf Sozialhilfe angewiesen. 

Gewalt an Frauen wird in der Schweiz immer noch verharmlost. Jede fünfte Frau ist in der Schweiz von sexueller Gewalt betroffen, über 50 % der Frauen von sexueller Belästigung. Die in der Kriminalstatistik erfassten Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs, die Dunkelziffer ist hoch: Gemäss einer Studie (2019) wollen fast die Hälfte der betroffenen Frauen den Vorfall sexueller Gewalt für sich behalten.

Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Kinderbetreuung mit Mutterschafts- und Vaterschaftsurlaub, gerechte Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, wirtschaftliche Gleichstellung in der Altersvorsorge, paritätische Vertretung der Geschlechter in Politik und Wirtschaft, gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, Reduktion und Enttabuisierung der Gewalt an Frauen – diese Postulate sind nicht sogenannte Frauenanliegen, sondern tangieren die ganze Gesellschaft. Die Gleichstellung der Geschlechter mit ihrer politischen und materiellen Gleichberechtigung ist ein Gebot der Gerechtigkeit.

Was können Männer zur Gleichberechtigung beitragen?

Weil gesellschaftspolitische Fragen von Frauen und Männern gemeinsam zu beantworten sind, sind Männer somit der eigentliche Schlüssel zur Gleichberechtigung. Nur gemeinsam wird der gesellschaftliche Wandel geschehen. Darum ist es sehr wichtig, dass wir nicht von «Frauenanliegen» reden, sondern von Gesellschaftspolitik. Die Gleichberechtigung ist dann erreicht, wenn Männer und Frauen erkennen, dass ein Leben auf Augenhöhe in der Wirtschaft, in der Politik und im Privaten für alle ein Mehrwert ist.

Sie haben das Frauennetzwerk «FrauenBasel» gegründet. Welche Bedeutung haben solche Netzwerke?

Frauennetzwerke bieten Solidarität und sind eine Anlaufstelle. Frauen können sich beispielsweise über ähnliche berufliche Hürden, aber auch über Erfolge austauschen oder Vorbilder treffen. Dadurch können sie sich ihrer eigenen Chancen und Talente bewusster werden. Sie können ihre Kräfte bündeln und Projekte koordinieren. Frauennetzwerke sind wichtig als Ergänzung zu gemischten Netzwerken.

Studien belegen jedoch, dass sich Frauen in Netzwerken anders verhalten als Männer: Frauen knüpfen tendenziell weniger Kontakte und orientieren sich auch weniger an einflussreichen Kontakten. Weiter haben viele Frauen Hemmungen, soziale Beziehungen für die Karriere zu nutzen. Zudem unterschätzen Frauen ihren Wert, so die Ergebnisse der Forschung. Wollen Frauen weiterkommen, so setzt dies voraus, dass sie sich selbstbewusst und nicht nur in reinen Frauennetzwerken bewegen.

Und wofür setzen Sie sich auf internationaler Ebene ein?

Ich bin Mitglied der International Alliance of Women (IAW), einer globalen Frauenorganisation, die sich unter anderem besonders für schutzbedürftige Frauen und Mädchen einsetzt. Eine wichtige Ursache von Diskriminierung und sexueller Gewalt gegenüber Frauen, insbesondere in armen Ländern inmitten militärischer Konflikte, ist die fehlende Gesundheitserziehung. Die finanziellen und personellen Ressourcen für eine Erziehung über sexuelle und reproduktive Gesundheit fehlen gänzlich. Fakt ist, dass Menstruation oft stark tabuisiert wird und oft weder Monatsbinden noch separate Toiletten mit Privatsphäre und Waschgelegenheit vorhanden sind. Fatale Konsequenz ist, dass Mädchen in armen ländlichen Gegenden monatlich bis zu fünf Tagen der Schule fernbleiben. Dieses Problem geht die International Alliance of Women mit dem Projekt «Water and Pads for School Girls – Wasser und Binden für Schülerinnen» an. Im Fokus steht die sexuelle Aufklärung an Schulen in ländlichen Gegenden Afrikas und Asiens. Dieses Projekt unterstütze ich.

Geschlechtergerechtigkeit sowie die Förderung von Frauen und Mädchen sind regelmässig Themen internationaler Konferenzen der Vereinten Nationen: Als Delegierte der International Alliance of Women habe ich im Frühling 2019 an der 63. Sitzung der Kommission der Vereinten Nationen zur Rechtstellung der Frau (UN Commission on the Status of Women, UN CSW) in New York und im Herbst 2019 am «Beijing+25 Regional Meeting for the UNECE Region» der Vereinten Nationen (UN) in Genf teilgenommen. Ab Januar 2020 bin ich ständige internationale NGO Vertreterin am UN Menschenrechtsrat in Genf. An der UNO akkreditierte NGO entsenden Vertreterinnen und Vertreter und lassen so die Stimme der Zivilgesellschaft einfliessen.

In internationalen Gremien, wie funktioniert dort die Zusammenarbeit?

Wenn sich auch die Programme der politischen Parteien und Akteure in den internationalen Gremien unterscheiden, so verfolgen wir doch alle die gleichen Ziele: höhere Partizipation der Frauen in der Politik, insbesondere in den Parlamenten, sowie mehr Sicherheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen. Wir evaluieren erfolgreiche Modelle – «Best Practice» – und konzentrieren uns auf das, was uns zusammenbringt und verbindet, nicht was uns trennt.

Foto: Michel Matthey de l’Etang

www.frauenstimmrecht.ch
http://www.frauenbasel.ch

Publikation:
Von Heydebrand, Sibylle: Stimmrecht und kantonale Autonomie: Allgemeines und gleiches Stimmrecht am Beispiel der Nordwestschweizer Kantone, Basel 2019

In den Medien:

50 Jahre Frauenstimmrecht: Gerechtigkeit ist der Motor, der uns bewegen sollte, BZ Basel vom 24. Juni 2016

“Feministin mit Herz und Stil”, Basler Zeitung vom 8. August 2017
sowie weitere Artikel