2019

Frauenräume – auch heute!

Lou-Salomé Heer und Bettina Stehli sind Historikerinnen. Ihr Verein «Die Historikerin» fördert feministische und Frauen-Geschichte mit Bezug zur Schweiz. Sie sind Teil der fraum*, des Frauen*Zentrums in Zürich.

ES BRAUCHT RÄUME FÜR DIE BEZIEHUNGEN UNTER FRAUEN –  AUCH HEUTE!

Frau Stehli, Frau Heer, Sie schreiben die Geschichte der Villa Kassandra, einem Bildungs- und Ferienzentrum von und für Frauen in den 1980/90er-Jahren: Warum ist diese Geschichte wichtig?

Lou-Salomé Heer: Die Geschichte der Villa Kassandra ist hochaktuell, denn es geht um nichts Geringeres als um die Bedeutung von Frauenräumen für eine feministische politische Praxis. In Damvant, im Kanton Jura, hatten Frauen gemeinsam ein Haus erworben, renoviert und einen Ort geschaffen, an dem zwischen 1986 und 1995 Frauen aus unterschiedlichen Frauenszenen zusammenkamen. Sie gaben Wissen weiter, vernetzten sich, feierten und stritten gemeinsam, erprobten andere Arbeits- und Lebensformen. Es ging um Handlungsraum, Selbstbestimmung und Ermächtigung, um die Erfahrung, was Frauen unter sich gemeinsam schaffen können. Das ist nicht als Rückzug von der Welt zu verstehen, im Gegenteil. Vielmehr ging es darum, überhaupt ein Gefühl der eigenen Existenz zu bekommen in einer Welt, die nicht auf Frauen als handelnde Subjekte mit eigenen Vorstellungen gewartet hat. In der Villa Kassandra entstanden Netzwerke und Beziehungen unter Frauen, die bis heute nachwirken. Das Bildungs- und Kursangebot war sehr breit und die Frauensommeruniversitäten, die in der Villa Kassandra stattfanden, griffen Themen auf, die an Brisanz bis heute nichts verloren haben: Gen- und Reproduktionstechnologien, Rassismus und Eurozentrismus in der Frauenbewegung oder die internationale Geldpolitik und ihre Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse.

Bettina Stehli: Eine Frau beschrieb die Villa Kassandra einmal als Katalysator, bei einer anderen Gelegenheit als Durchlauferhitzer. Beides Bilder der Beschleunigung und Umwandlung. Das war so für einzelne Frauenleben und für die damalige Frauenbewegung. Dieselbe Frau erzählte uns, dass sie nach der Rückkehr aus der Villa Kassandra fünf Zentimeter über dem Boden schwebte. Ihr Mann wurde eifersüchtig, er verdächtigte sie einer Liebschaft. Gewissermassen stimmte das, aber noch viel fundamentaler als der Mann fürchtete: Sie hatte die Frauen entdeckt und die Liebe zu ihnen und damit zu sich selbst. Die Frauenliebe, die Liebe von Frauen untereinander, die Liebe der Frauen zu sich selbst, zum eigenen Körper, wurde in der Villa Kassandra unerschrocken erkundet. Dieses Feld spannten auch die Frauen auf, die für sogenannte «spirituelle» Kurse in die Villa Kassandra kamen. Viele dieser Frauen lebten eine radikale Befreiung des eigenen Körpers und Denkens aus der patriarchalen Herkunft. Ihre Auseinandersetzung mit der Religion war für sie ein Sprungbrett in eine Kühnheit des feministischen Engagements, die uns heute ein Vorbild ist. In der Villa Kassandra stellten sie zum Beispiel die Frage nach der Bedeutung lesbischer Existenz für alle Frauen.

2) Wie ist die Villa Kassandra in der damaligen Frauenbewegung zu verorten? 

Lou-Salomé Heer: Die Kassandra ist Teil einer internationalen Frauenkultur, die aus der Frauenbewegung der 1970er-Jahre entstanden ist mit Frauenbuchläden, Frauengesundheitszentren, Frauenbands, Frauenzentren, Zeitschriften. Sie ist Ausdruck einer politischen Praxis von Frauen mit Frauen für Frauen. Wir sind uns gar nicht bewusst, wie viele heute mehr oder weniger institutionalisierte Stellen aus dieser Frauenkultur und Projektpraxis entstanden sind. Frauenhäuser, Beratung für Migrantinnen, Beratungsstellen für Betroffene von sexualisierter Gewalt etc. Diese Geschichte muss weiter aufgearbeitet und unbedingt auch vermittelt werden.

3) Welche Fragen, die sich in der Villa Kassandra stellten, sind für Sie gegenwärtig von besonderer Bedeutung?

Bettina Stehli: Eine wichtige Spur liegt in einer Geschichte, die uns eine Frau aus einer Sommeruniversität in der Villa Kassandra erzählte. Bei den Sommerunis kamen jeweils Frauen aus verschiedensten Strömungen der Frauenbewegung zusammen, entsprechend wurde viel gestritten. Aber auch nach hitzigen Debatten hätten die Frauen zusammen in einer im Garten aufgestellten Wanne Körper an Körper gebadet. Dieses Bild ist für uns in mehrerer Hinsicht wichtig. Es zeigt, dass und wie Frauen aus unterschiedlichen Szenen und mit sich auch widersprechenden Ansichten miteinander in Austausch kommen konnten. In diesem Bild liegt eine Lust, die ein roter Faden ist für unser Nachdenken über die Kassandra und die Welt. Denn es gibt für Frauen einen Lustverlust an der Welt, der noch viel schwerer wiegt als Diskriminierungen, beziehungsweise die eigentliche Diskriminierung darstellt. «Dastehen im Leben der Gesellschaft ohne Lust, ohne Kompetenz und ohne Wohlbehagen.», so haben es die Frauen aus dem Mailänder Frauenbuchladen bereits 1983 formuliert und wir machen diese Erfahrung auch heute. Wie sich eine Frau die Lust bewahrt, wie sie dieser Raum gibt, wie es gehen könnte, «auf der Welt zu bestehen und vom FrauSein nichts aufzugeben» – das ist eine Frage mit viel Potential.

4) Welche Räume und welche Frauen sind Bezugspunkte für Ihr Denken und Ihre Arbeit als Historikerinnen? 

Bettina Stehli: Unsere Beschäftigung mit der Villa Kassandra entstand selbst in einem Frauenraum und ist ohne diesen gar nicht zu denken. Im Frauen*Zentrum in Zürich, fraum* genannt, erproben wir seit einigen Jahren eine Politik der Frauen – zum Beispiel mit Generationengesprächen. In diesen Gesprächen wurde immer wieder von der Villa Kassandra gesprochen und immer mit einem Leuchten in den Augen. Was ist in dieser Villa Kassandra passiert, dass sie noch heute ein lebendiger Bezugspunkt ist? Dem wollen wir nachgehen, denn wir brauchen auch heute solche Bezugspunkte, feministische Räume des Möglichen. Feministische Praxis ist immer auch Science Fiction – eine Arbeit an dem, was auch möglich sein kann und dafür ist die historische Auseinandersetzung ganz zentral.

Lou-Salomé Heer: Ein wichtiger Bezugspunkt ist für uns, wie gesagt, auch das Denken der Mailänderinnen, die seit 1975 die Libreria delle donne di Milano führen. 2016 konnten wir sie besuchen – mit einer Gruppe von Zürcherinnen und Berlinerinnen im Rahmen von Feminism Recaptured, einer Bildungsreihe in der fraum*. Das war für uns ein Wendepunkt. Wir sind früher vom Glaubenssatz ausgegangen «DEN einen Feminismus gibt es nicht», haben von Feminismen im Plural gesprochen, weil wir das als korrekt und respektvoll empfanden und es der wissenschaftlichen Einordnungslust entspricht: Hier haben wir den bürgerlichen Feminismus weisser Mittelschichtsfrauen, hier den Feminismus von Schwarzen Frauen und Women of Color, hier Queerfeminismus, da Differenzfeminismus und so weiter. Wir sitzen also mit dieser vermeintlich korrekten Haltung da und dann behauptet die Philosophin Luisa Muraro tatsächlich: «Es gibt nur einen Feminismus!» mit dem Nachsatz: «Der Feminismus ist ein Kampfplatz». Wir waren sprachlos. Aber es war auch eine Befreiung. DEN einen Feminismus gibt es sehr wohl. Es muss ihn geben, wenn wir gemeinsam politisch handeln wollen. Das heisst nicht, dass es nicht sehr unterschiedliche oder gar sich widersprechende Ansichten gibt, aber es heisst: Der Feminismus ist unsere Öffentlichkeit, es ist der Ort an dem wir uns begegnen, streiten, aushandeln, Perspektiven vertreten, Standpunkte wechseln, unser Handeln und Denken gemeinsam erweitern können. 

Fotos: Janice Shaw, «wir haben eine fraum»

Weiteres zur «Historikerin» und zur Villa Kassandra auf historikerin.ch. Das Buchprojekt zur Villa Kassandra kann über den Verein unterstützt werden. Das Frauen*Zentrum Zürich besteht seit 2013 in den Räumlichkeiten des alten Frauenzentrums an der Mattengasse 27, Veranstaltungen und Newsletter über fraum.ch. Die Libreria delle donne di Milano ist hier im Netz libreriadelledonne.it und auf FB. Der Nachlass zur Villa Kassandra befindet sich im Sozialarchiv Zürich.

Literaturhinweis: Gisela Jürgens & Angelika Dickmann. frauen – lehren. Mit «Mehr Frau als Mann», dem Grünen Sottosopra der Frauen des Mailänder Frauenbuchladens, übersetzt von Lilo Schweizer. Rüsselsheim 1996. 

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