2019

Religion und Gender

Dr. Doris Strahm (*1953) ist feministische Theologin und Publizistin. Sie ist Gründungsmitglied und seit 2014 Vorstandsmitglied der IG Feministische Theologinnen der Schweiz sowie Mitgründerin der feministisch-theologischen Zeitschrift FAMA. 2007 wurde Doris Strahm mit dem Marga-Bührig-Anerkennungspreis ausgezeichnet.

Frau Strahm, im November 2018 traten Sie, gemeinsam mit fünf weiteren bekannten Frauen, aus der römisch-katholischen Kirche aus. Was war der Anlass?

Doris Strahm: Der unmittelbare Anlass war die Aussage von Papst Franziskus im letzten Oktober, dass Abtreibung wie ein Auftragsmord sei. Dies war aber nur der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Denn als römisch-katholische feministische Theologin trieb mich schon seit Jahren die Frage um, wie ich als Feministin, die sich für Frauenrechte, Geschlechtergerechtigkeit und sexuelle Selbstbestimmung von Frauen einsetzt, einer Institution angehören kann, die diese Rechte verneint und in ihren Reihen Frauen allein aufgrund ihres Geschlechts von den kirchlichen Ämtern und von der Leitungsmacht ausschliesst. 

Doch ich bin drin geblieben, weil es Leute braucht, die die Frauenfeindlichkeit der römisch-katholischen Kirche offen anprangern und weil ich die Definitionsmacht darüber, was «katholisch» ist, nicht den alten Männern in Rom überlassen wollte. Das Bekanntwerden von Missbrauchsfällen massiven Ausmasses und deren Vertuschung durch die Kirchenoberen sowie der unsägliche Abtreibungsvergleich des Papstes brachten bei mir aber das Fass zum Überlaufen. Mit einer solchen Kirche will ich nicht länger identifiziert werden.

Fühlen Sie sich nun nicht heimatlos? 

Nein, ganz und gar nicht. Ich fühle mich in erster Linie befreit! Die innere Spannung, als Feministin einem System anzugehören, in dem «Frauenfeindlichkeit ein Teil des Geschäftsmodells» ist, wie es eine meiner Austrittskolleginnen treffend auf den Punkt brachte, hat mich innerlich zerrissen. 

Und ich bin nicht heimatlos geworden, weil die römische Männerkirche schon lange nicht mehr meine Heimat war. Beheimatet bin ich in der weltweiten Gemeinschaft von feministischen und Queer Theologinnen, von Befreiungstheologen und ökofeministischen Theologinnen aus dem Süden. Mit ihnen teile ich die Vision einer gerechten und menschenfreundlichen Kirche, in der alle dazugehören und niemand ausgeschlossen wird.

Was genau ist feministische Theologie?

Feministische Theologie ist eine fundamentale Kritik an den patriarchalen Strukturen und der Frauenfeindlichkeit der christlichen Religion. Sie untersucht, wie biblische Texte, theologische Lehren und die religiöse Praxis, Kirchenstrukturen und Amtsverständnis zur Zweitrangigkeit von Frauen beigetragen, das patriarchale Geschlechterverhältnis und die Geschlechterrollen geprägt und theologisch legitimiert haben. 

Feministische Theologie ist aber auch eine Neuformulierung der Theologie aus der Sicht von Frauen, deren Erfahrungen über Jahrhunderte in der Theologie unsichtbar geblieben sind. Frauen eignen sich Definitionsmacht über ihre religiöse Tradition an: Sie lesen die Bibel mit ihren eigenen Augen und finden darin auch Traditionen der Gleichheit und Gleichwertigkeit, die von der patriarchalen Theologie unsichtbar gemacht wurden; sie entdecken das Erbe ihrer biblischen Vorschwestern, die als Jüngerinnen und Apostelinnen aktiv an der Verkündigung des christlichen Glaubens beteiligt waren, und sie entwerfen neue Modelle einer frauenbefreienden und geschlechtergerechten Theologie.

Hat Gott tatsächlich den Menschen als Mann oder Frau geschaffen – und das jeweilige Korsett angegeben?

Das behaupten konservative und fundamentalistische Christ_innen. Doch das entspricht nicht dem, was in den Schöpfungstexten der Bibel steht. In Genesis 1, der ersten Schöpfungserzählung, heisst es: «Da schuf Gott die Menschen, als göttliches Bild, als Bild Gottes wurden sie geschaffen, männlich und weiblich hat Gott sie geschaffen.» (Gen 1,27). Die Menschheit wird also mit den beiden Ausprägungen männlich und weiblich von Gott geschaffen. Doch was dies bedeutet, wird nicht definiert. Es werden keine biologischen Geschlechtsmerkmale benannt, keine schöpfungsmässigen männlichen oder weiblichen Geschlechterrollen festgelegt, keine hierarchischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern ausgesagt. Es wird nur festgehalten, dass beide gleichwertig Bild Gottes sind. 

Diese Gleichwertigkeit von Männlichem und Weiblichem gilt auch für das nächste Kapitel, Genesis 2. Hier wird erzählt, dass Gott aus Adam, dem ersten Menschenwesen, zwei macht, aus jeder Seite eines: eine Frau und einen Mann, die aus dem gleichen Fleisch und Blut sind. Von männlichen und weiblichen Geschlechterrollen oder gar einem Rollenkorsett ist auch in der zweiten Schöpfungserzählung keine Rede!

Weshalb ist die Gender-Frage in der Kirche so wichtig?

Die Gender-Frage ist in den Kirchen und in der Theologie deshalb so wichtig, weil diese massgeblich an der Herstellung und Verfestigung von hierarchischen Geschlechterrollen und einem negativen Frauenbild beteiligt waren – und es zum Teil bis heute sind. Einige Beispiele dafür: eine patriarchale Lesart der biblischen Schöpfungserzählungen, die das patriarchale Geschlechterverhältnis und Heteronormativität in die Texte hineininterpretiert und als göttliche Ordnung ausgibt; die Abwertung und «Verteufelung» der Frau als sündige Eva, die den Mann zur (sexuellen) Sünde verführt hat; ein männliches Gottesbild, das suggeriert, dass Gott männlich ist und der Mann daher gottähnlicher als die Frau. Dies alles prangern feministische Theologinnen seit Jahren an.

Gender ist derzeit aber auch deshalb ein zentrales Thema, weil einige römisch-katholische Bischöfe und der Vatikan der sog. «Gender-Ideologie» den Kampf angesagt haben. Gender sei eine Sünde gegen den Schöpfergott, denn Gender stelle Gottes Schöpfungsordnung in Frage, propagiere die völlige Abschaffung der Unterschiede zwischen Mann und Frau und zerstöre die Familien. In einigen europäischen Ländern hat die katholische Kirche direkten Einfluss auf die Polarisierung der Gesellschaft in Genderfragen (z.B. in Polen, Frankreich, Italien, Kroatien und der Slowakei) und versucht, die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen einzuschränken (Stichwort «Abtreibung»). Der Kampf gegen Gender und Frauenrechte wird nicht allein vom Vatikan geführt. Aktuell versucht eine gefährliche Allianz von christlich-konservativen, fundamentalistischen und rechtspopulistischen bis rechtsradikalen Kräften unter dem Label «Anti-Genderismus» Frauenrechte und LGBT-Rechte einzuschränken und eine konservative Geschlechterordnung politisch durchzusetzen.

Beissen Feministinnen in der Kirche auf Granit, wenn sie etwas verändern wollen?

In der römisch-katholischen Kirche auf jeden Fall. Denn diese ist ein autoritär-hierarchisches System, das von Frauen strukturell nicht verändert werden kann. Frauen sind ja wegen ihres Geschlechts von der Weihe ausgeschlossen. Da die klerikale Leitungs- und Entscheidungsmacht aber an die Weihe geknüpft ist, können Frauen nie in die Zentren der Macht vordringen. Dennoch gibt es immer wieder Versuche, gegen diese Diskriminierung vorzugehen und die Gleichberechtigung in der römisch-katholischen Kirche zu fordern. So werden sich aktuell Kirchenfrauen am 14. Juni nicht nur am nationalen Frauenstreik beteiligen, sondern lancieren am 15. und 16. Juni zusätzliche Aktionen in den Kirchen unter dem Motto: Gleichberechtigung.Punkt.Amen

In den reformierten Kirchen der Schweiz ist die Gleichstellung von Mann und Frau formal gegeben. Frauen sind hier zur Ordination zugelassen und immer mehr Frauen sind als Pfarrerinnen tätig. Aber auch in den reformierten Kirchen ist das Ziel der völligen Gleichstellung der Geschlechter noch nicht erreicht, weshalb sich auch reformierte Kirchenfrauen am Frauen*KirchenStreik beteiligen werden.

Welche Theologinnen sollten unsere Leserinnen und Leser kennen?

Es gibt weltweit unzählige wichtige Theologinnen. Ich beschränke mich exemplarisch auf drei wichtige Schweizer Theologinnen:

Marga Bührig (1915-2002), evangelische Theologin, die die kirchliche Frauenbewegung in der Schweiz massgeblich geprägt und sich im Alter als feministische Theologin verstanden und engagiert hat.

Helen Schüngel-Straumann (*1940), römisch-katholische Theologin, die mit ihren feministischen Analysen der biblischen Schöpfungstexte das kirchliche Bild von Eva als Sünderin und als dem Mann gegenüber minderwertig und ihm untergeordnet gründlich dekonstruiert hat.

Ina Praetorius (*1956), evangelische Theologin, die wegweisende Beiträge zu einer postpatriarchalen Theologie und Ethik, zur Care-Wirtschaft und zu geburtlichem Denken verfasst hat.

Website von Doris Strahm: www.doris-strahm.ch

2 Kommentare

  1. Pingback: Das Projekt „100Frauen.ch“ portraitiert Doris Strahm | FAMA

Kommentare sind geschlossen.