2019, Home

Interreligiöser Think-Tank

Amira Hafner-Al Jabaji ist muslimische Islamwissenschaftlerin und Moderatorin bei «Sternstunde Religion». Im Jahr 2011 erhielt sie den Anna-Göldi-Preis. 2016 wurde ihr der Fischhof-Preis der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) und der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz (GMS) für ihren langjährigen Beitrag für ein friedliches Zusammenleben verliehen.

Frau Hafner-Al Jabaji, gemeinsam mit der der christlichen Theologin Doris Strahm und der Judaistin Annette M. Böckler haben Sie den «Interreligiösen Think-Tank» gegründet. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Amira Hafner-Al Jabaji: Das ist nur zum Teil richtig. Doris Strahm und ich bildeten lediglich den christlichen und muslimischen Teil des Gründungsteams. Die Idee und Vorarbeit von jüdischer Seite wurde von Eva Pruschy mitgetragen, die aber kurz vor der offiziellen Gründung ausstieg. Das jüdische Gründungsmitglied war Gabrielle Girau Pieck. Annette Böckler hat 2017 ihre Nachfolge angetreten.

Zur Idee und Entstehung: In den frühen 2000er Jahren fanden in der Schweiz mehrere «Interreligiöse Theologiekurse für Frauen» statt, die wichtigen Einsichten zu Judentum, Christentum und Islam und zum Dialog zwischen den Religionen aus weiblicher Perspektive lieferten. An diesen Theologiekursen hatten die meisten der ITT-Gründungsfrauen aktiv mitgearbeitet und viel Erfahrung und Wissen über die Herausforderungen und Dynamiken in interreligiösen Dialogsituationen erworben. Diese Erkenntnisse waren so grundlegender Art, dass bei uns die Idee aufkam, man müsse sie auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Die Gründung des ITT erfolgte 2008 zudem kurz nachdem der «Rat der Religionen», ein reines Männergremium, das aus lauter Vertretern religiöser Institutionen besteht, lanciert wurde. Da der interreligiöse Dialog generell von Männern dominiert war, wollten wir ein interreligiöses Gefäss schaffen, das der Perspektive von Frauen zu Sicht- und Hörbarkeit verhilft und das nicht nur religiöse Institutionen, also Kirchen, jüdische und muslimische Organisationen etc., repräsentiert. So versteht sich der Interreligiöse Think-Tank als institutionskritisch, was die religiösen Institutionen betrifft, und er legt seinen Fokus auf interreligiös-theologisch-feministisch-politische Themen.

Was kann man sich unter einem interreligiösen Think-Tank vorstellen? Was tun Sie konkret?

Wir mischen uns in die öffentlichen Debatten ein und publizieren auf unserer Website www.interrelthinktank.ch Stellungnahmen zu religions- und gesellschaftspolitischen Themen, wir bringen biblische und koranische Positionen zu aktuellen Themen und Fragestellungen in einen Dialog (aktuell zum Thema Ökologie), analysieren die Situation und das Potential von Frauen in ihren Religionsgemeinschaften, reflektieren und publizieren über das Verhältnis von Religion und Frauenrechten. Im «Leitfaden für den Interreligiösen Dialog», der bislang erfolgreichsten Publikation des Think-Tanks, legen wir dar, wie praktische, theologische und rhetorische Stolpersteine bei der Planung und Durchführung von Dialogveranstaltungen zu erkennen und zu vermeiden sind. Positiv ausgedrückt, was es zu beachten gilt, um einen erfolgreichen und nachhaltigen Dialog zwischen Angehörigen verschiedener Glaubensgemeinschaften zu etablieren. In diesem Sinn begleiten und beraten wir auch Organisationen, die sich mit interreligiösen Fragen beschäftigen.

Wie steht es in den verschiedenen Religionen um die Gleichstellung der Frau? 

Das kommt darauf an, was genau man unter Religion in diesem Zusammenhang verstehen will. Sind es die Aussagen in den religiösen Quellen, insbesondere in Bibel und Koran? Oder die über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende gewachsenen, meist patriarchalen Strukturen und Traditionsgeflechte? Oder meinen wir die reale Situation von Frauen in Gesellschaften, in denen eine bestimmte religiöse Weltanschauung vorherrscht? 

In den Quellen finden wir ambivalente Aussagen. Solche, die das Patriarchat stützen und somit die Herrschaft des Mannes und die den Rang des Mannes über den der Frau stellen, und andere, die die Gleichstellung und Gleichwertigkeit der Geschlechter postulieren. Was in allen Religionen gleich ist: Die Macht zur Auslegung von religiösen Quellen lag stets bei den Männern. So haben Interpretationen, die die männliche Vormachtstellung zementieren, über weite Strecken die Geschichte und die Traditionen bestimmt. Heute ermächtigen sich Frauen in Judentum, Christentum und Islam vermehrt dazu, die Quellen selbst zu lesen und zu interpretieren und damit die männliche Definitionsmacht aufzubrechen und grundlegende Veränderungen zu bewirken.

Interessante und vielleicht für manche auch überraschende Unterschiede haben wir in unserer Studie über Leitungsfunktionen von Frauen in jüdischen, christlichen und muslimischen Gemeinschaften gefunden. Hier zeigt sich, dass nur gerade in den evangelisch-reformierten Kirchen Frauen gänzlich den gleichen Zugang zum Leitungsamt haben wie Männer und dies von den Theolog*innen wie auch von der Basis gestützt wird. In Judentum und Islam stehen zumindest theoretisch und theologisch ebenfalls keine Hindernisse im Weg, Rabbinerin bzw. Imamin zu werden. Hier ist die fehlende Akzeptanz in weiten Teilen der Basis dieser beiden Religionsgemeinschaften ausschlaggebend für die sehr zögerliche Entwicklung in Richtung weiblicher Leitungspersonen. Einzig im römisch-katholischen Christentum sind es theologische Argumente, die bis heute gegen die Frauenordination ins Feld geführt und als unveränderlich ausgegeben werden. Frauen werden hier allein aufgrund ihres Geschlechts vom sakramentalen Weiheamt und damit von allen klerikalen Leitungsfunktionen ausgeschlossen. Dies, obwohl die Akzeptanz weiblicher Priesterinnen zumindest bei uns in Westeuropa an der Basis gross wäre.

Jede Religion, aber auch jede Gesellschaft, hat für sich zudem ihre spezifischen Themen und Problemfelder im Bereich Religion und Frauendiskriminierung. Nach jüdischem Recht etwa kann sich die Frau nur mit Einwilligung des Mannes scheiden lassen. Nach islamischem Recht erben weibliche Nachkommen nur die Hälfte dessen, was männliche Nachkommen erben, um zwei konkrete Beispiele zu nennen. Wir sollten aber nicht vergessen, dass es nicht vornehmlich religiöse Anschauungen sind, die zu den krassesten Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen führen, sondern ökonomische und soziale Umstände, die zum Beispiel ein Bildungsmanko erzeugen, das sich häufig einseitig zu Lasten der Frauen auswirkt. Frieden, Bildung und Wohlstand sind die wichtigsten Aspekte, um die Situation von Frauen zu verbessern.

War das früher auch so? 

Der ökonomische und soziale Aspekt hatte stets Einfluss auf Gendergerechtigkeit. Aber es gibt tatsächlich auch Rückschritte bezüglich der religiösen Gleichstellung von Frauen im Vergleich zu früheren Epochen, zumindest im islamischen Kontext. Muslimische Frauen hatten in der frühislamischen Zeit etwa keine Restriktionen, die Moschee zu besuchen. Das ist heute, im 21. Jahrhundert, zum Teil anders. Da werden z.B. Kapazitäts- und Platzprobleme vorgeschoben und den Frauen ihren zunächst zugesicherten Platz zum Beten wörtlich streitig gemacht. Auch war es durchaus üblich, dass Frauen in der islamischen Frühzeit als Politikerinnen, Ratgeberinnen, Gelehrte und Führerinnen fungierten. Heute dürfen Frauen oft «dankbar» sein, wenn sie in Moscheeleitungen in einem Untergremium «Frauenthemen» beratschlagen dürfen. So gesehen sind muslimische Frauen heute in zweifacherweise Weise Diskriminierungen ausgesetzt: in der eigenen Gemeinde und in unserer Gesellschaft, wenn sie ihnen etwa Zugänge zu Beruf und öffentlicher Präsenz erschwert, falls sie Kopftuch tragen.

Für christlich sozialisierte Frauen in Westeuropa hat die Säkularisierung durchaus Fortschritte gebracht. Recht und soziale Normen haben sich hier zunehmend ausserhalb und oft auch in Widerspruch zu kirchlichen Positionen verändert. Wie erleben aber auch heute noch die Reibungen, die bei diesem Prozess entstehen, etwa bei der Abtreibungsfrage. Im Moment beobachte ich, dass sich in Europa so etwas wie ein ausserkirchliches Christentum-Verständnis entwickelt. Hier sind es vor allem Frauen, die aus Frustration und Hoffnungslosigkeit aus der römisch-katholischen Kirche austreten und dennoch ein dezidiertes christliches Selbstverständnis haben, das sie auch in (neuen) Formen der Praxis leben wollen. Wir leben also in einer höchst spannenden Umbruchszeit und historisch komplexen Situation, was die Religionsfrage in unserer Gesellschaft betrifft. Ich bin überzeugt: Frauen werden in diesem Prozess eine (ge-)wichtige und gestaltende Rolle spielen.

Foto: Laurent Burst

Interreligiöser Think-Tank
Amira Hafner-Al Jabaji, Sternstunde Religion, SRF