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Für randständige Menschen

Hélène Vuille (*1953) setzt sich seit Jahren dafür ein, dass Lebensmittel nicht weggeworfen, sondern an bedürftige Menschen verteilt werden. Sie schaut hin, wo viele andere wegschauen. Vuille hat zwei Bücher zum Thema geschrieben. Ihr drittes Buch, das sie soeben fertiggestellt hat, beschreibt die unglaubliche Geschichte eines Flüchtlings – auch eine wahre und schreckliche Geschichte eines »randständigen« Menschen.
Neben den biografischen Büchern schreibt die Autorin auch Märchen.

Frau Vuille, wie kam es zu Ihrem Engagement gegen Foodwaste?

Hélène Vuille: Es war dieser eine Abend im Jahr 1998, als ich nach meiner Arbeit kurz vor Ladenschluss noch ein Brot kaufen wollte und mitansehen musste, wie die Verkäuferin an einer Gourmessabar sämtliche Tagesfrischprodukte – Lebensmittel wie Brote, Wähen, Sandwiches, Feingebäcke, Snacks, Canapés, Salatportionen, Fruchtportionen, Birchermüesli, Torten und Patisserie in einer grünen Tonne entsorgte.
Es war dieser bestimmte eine Moment, der nach dem darauf folgenden 90 minütigen Gespräch mit dem verantwortlichen Filialleiter meinem Leben und meiner beruflichen Tätigkeit eine andere Richtung geben sollte. Nach initial hartnäckiger Verweigerung und unnachgiebigen Argumenten des Filialleiters auf meinen Vorschlag, diese Lebensmittel an obdachlose Menschen zu verteilen, war er schliesslich einverstanden. Wohl auch, weil sein Feierabend längst begonnen hatte und er nicht glaubte, dass ich tatsächlich wiederkommen würde, um diese Tagesfrischprodukte abzuholen. Per Handschlag besiegelten wir unseren Vertrag. Bereits am nächsten Abend holte ich die erste Ladung ab, um sie in ein Obdachlosenheim in Zürich zu bringen. Ein Heim, welches für 33 Männer die Endstation einer Reise durch zahlreiche Institutionen, psychiatrische Kliniken, dem Gefängnis oder der Strasse darstellt – ein Heim für Menschen die man nicht sieht, weil man sie nicht sehen will. Oft sind es Menschen, mit denen niemand mehr etwas zu tun haben möchte.
Bald schon waren 3 Abende pro Woche fest in mein Leben integriert, an denen ich Tagesfrischprodukte brachte. Und nach wenigen Monaten fasste ich den Entschluss, mein Projekt weiter auszubauen.
Es war der Anfang eines schwierigen Kampfes gegen die Verschwendung von Lebensmitteln – gegen den „Orangen Riesen“ auch, bei dem ich mich oftmals wie David gegen Goliath fühlte. „Nur dank der Kompetenzüberschreitung des damaligen Filialleiters wäre es so weit gekommen“, wurde ich von Instanz zu Instanz abgefertigt. Fehlende Logistik – Produktehaftung – Geld – Zeitaufwand, waren die Gegenargumente. Gar Verpackungsmaterial wie Kartonschachteln und Tragtaschen waren Thema einer Sitzung. Damit es daran nicht scheitern sollte, bezahlte ich sie von dem Tag an selbst. Mein Antrag, die Kosten des Verpackungsmaterials zu übernehmen, wurde vom Migros Kulturprozent dreimal abgelehnt.
Endlich, nach drei Jahren und einem prall gefüllten Bundesordner wurde ich von der Geschäftsleitung der Migros Genossenschaft Zürich zum Weihnachtsessen der Genossenschaftsratssitzung eingeladen, um mein Projekt vorzustellen. Darauf erlaubte man mir, mein Projekt auf fünf Migros Filialen auszuweiten. Die Caritas war Vertragspartnerin. Ich kündigte meine Arbeitsstelle, um mich mehr dem Projekt widmen zu können. Irgendwann war das Verpackungsmaterial kein Thema mehr. Seit ein paar Jahren werden die Lebensmittel in Kunststoffgebinden, welche die Migros zur Verfügung stellt, verteilt.

Auch heute noch bringe ich zweimal pro Woche Lebensmittel ins Obdachlosenheim. Durch diese Tagesfrischprodukte durfte ich viele obdachlose Menschen kennenlernen, sei es auf einer Bank, auf der Strasse, oder in einem Heim. Viele haben mir ihre Geschichte erzählt – ihre Geschichte bis zu dem Punkt in ihrem Leben, wo sie mit dem „normalen“ Alltag gebrochen haben. Sie haben mir erzählt, was es bedeutet, nicht beachtet oder mit Verachtung bestraft zu werden, dass sie nicht zurückkehren können oder wollen in ein Leben mit aufgezwungenen gesellschaftlichen Normen, erstarrten Strukturen und scheinheiliger Moral.

Was haben Sie mit Ihrem Engagement bewirken können?

Hélène Vuille: Im Jahr 2012 habe ich mein Buch „im Himmel gestrandet“ veröffentlicht. Mein Ziel war es, den bedürftigen Menschen, die ich kennenlernen durfte, eine Stimme zu geben. Gleichzeitig habe ich über meine Erfahrungen mit der Migros geschrieben. Bereits zehn Tage nach Veröffentlichung hatte mein Projekt bei der Migros einen ganz anderen Stellenwert eingenommen. Wohl durch den Druck der Medien wurde in einem Vertrag zwischen der Migros, der Caritas und mir besiegelt, dass in jeder Migrosfiliale der Migrosgenossenschaft Zürich nichtverkaufte Tagesfrischprodukt bei Ladenschluss abgegeben werden dürfen, um diese an Bedürftige zu verteilen.
Elf Heime in Zürich gehören inzwischen zu meinem Projekt. Zusätzlich verteilen wir unterstützt von vielen Bäckereien und Hofläden, sowie freiwilligen Helferinnen und Helfern die Tagesfrischprodukte in verschiedenen Gemeinden. Abgegeben werden die Lebensmittel in einem Kirchgemeindehaus oder in einem Raum den die Stadt oder die Gemeinde zur Verfügung stellt. Mit einer Berechtigungskarte, einer sogenannten „Kulturlegi“, welche minderbemittelte Menschen vom Sozialamt oder von der Kirche erhalten, können die Tagesfrischprodukte an einem oder zwei Abenden pro Woche abgeholt werden.

Die Abgabe von Tagesfrischprodukten läuft komplementär zu bestehenden Organisationen wie „die Tafeln“ oder „Tischlein deck dich“, zwei grossartige Organisationen, die viele andere Lebensmittel wie Obst, Gemüse, Salate, Teigwaren, Büchsen, Reis etc. abholen und verteilen – Lebensmittel jedoch, die lediglich einer optischen Kontrolle unterstellt sind.
Tagesfrischprodukte sind frisch zubereitete 12-, 14- oder 16-Stundenprodukte, welche am folgenden Tag nicht mehr verkauft werden dürfen, obwohl sie klar noch halt- und essbar sind. Bis wann Tagesfrischprodukte konsumiert werden können, liegt im Ermessen des Kunden.

Gleichzeitig kämpfe ich seit 20 Jahren auf politischer Ebene. Eine marginale Gesetzesänderung der Handels- und Gewerbefreiheit könnte bewirken, dass Verkaufsorganisationen von Tagesfrischprodukten verpflichtet würden, diese nach Ladenschluss an zertifizierte Heime oder direkt an Bedürftige abzugeben. Immer wieder und insbesondere nachdem mein zweites Buch „die Brückenbauerin“ im Jahr 2016 erschienen ist, wurde mir von verschiedenen Politikerinnen und Politikern versichert, sie würden sich für eine solche Gesetzesanpassung einsetzen, mit der Bitte jedoch, mich zu gedulden. Ich gedulde mich bis heute. Paralell dazu kämpfe ich weiter.

> Webseite von Helene Vuille

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